Kent Nagano zum 70. Geburtstag:Lektionen in Demut

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Geprägt vom Wunsch, "ernste Musik" auch ernsthaft zu betreiben: Kent Nagano, hier am Rande einer Veranstaltung im Musikkindergarten Finkenau vor wenigen Wochen. (Foto: Christian Charisius/dpa)

Von Kalifornien über Berlin, München und Montreal nach Hamburg: Der Dirigent Kent Nagano wird siebzig - und denkt darüber nach, wie sich die eigene Offenheit erhalten lässt.

Von Wolfgang Schreiber

"Was wirklich zählt", schreibt der Dirigent Kent Nagano, sei ihm so wichtig, dass er daraus jetzt ein Buch gemacht hat, "10 Lessons of my Life". Der US-Amerikaner, Abkömmling japanischer Einwanderer, erinnert sich darin an Episoden mit Menschen, die tiefere Wirkung bei ihm hatten. Nagano beschreibt Begegnungen mit der isländischen Sängerin Björk, mit Pierre Boulez und dem Pianisten Alfred Brendel, mit Leonard Bernstein ("Wie ich lernte, dass es keine endgültigen Antworten gibt") und Frank Zappa ("Wie ich lernte, dass wahre Künstler nicht taktieren"). Er liebt Offenheit und Gründlichkeit im Denken. Und stellt in seinem Buch gleich die Existenzfrage: "Wie lernt man Integrität oder Wahrhaftigkeit? Sicher nicht aus Büchern oder im Internet."

Kent Nagano war kein Wunderknabe. Geboren wurde er 1951 in einem kalifornischen Fischerdorf am Pazifik zwischen San Francisco und Los Angeles - nicht als Spross einer Musikerfamilie, die ihn zum späteren Beruf angetrieben hätte. Der Vater Architekt, die Mutter eine Biologin, die Klavier spielte. Nagano vergrub sich früh in die Tasten, lernte die europäische Kultur kennen. Denn ein Musiker aus Georgien, in München ausgebildet, brachte dem Jugendlichen, dem das Surfbrett so lieb war wie das Klavier, auch Kunst und Philosophie nahe. Dieser Meister habe das Dorf in "eine Art musikalisches Labor" verwandelt. So entstand der Wunsch, die "ernste Musik" ernsthaft zu betreiben.

Der Komponist Olivier Messiaen blieb für Nagano die Vaterfigur seiner Künstlerexistenz

Nach Universitätsstudien in San Francisco begann Nagano mit dem Dirigieren, die Opera Company in Boston nahm ihn auf als Korrepetitor, seine Mentorin dort: die legendäre Managerin und Dirigentin Sarah Caldwell. Als er sich am Orchesterpult mit der Musik des großen französischen Komponisten Olivier Messiaen beschäftigte, schrieb er diesem einen Brief. Messiaen antwortete, ging detailliert auf Naganos Fragen ein, Freundschaft entstand. Der Komponist lud ihn zu sich ein, Nagano reiste nach Paris, blieb monatelang eine Art Sohn und Lernender in Messiaens Haus. Wurde Assistent des Dirigenten Seiji Ozawa 1984 bei der Uraufführung von Messiaens mystischer Oper "Saint François d'Assise". Jahre später dirigierte er sie selbst bei den Salzburger Festspielen.

Messiaen, in Paris Kirchenorganist, dem katholischen Glauben spekulativ verbunden, blieb für Nagano die Vaterfigur seiner Künstlerexistenz. Messiaens von Klangfarben berauschte Musik hat er unzählige Male dirigiert, die monumentale Orchesterpoesie "La Transfiguration de Notre Seigneur Jésus-Christ" kürzlich auf CD vorgelegt, souverän, stark und frei musiziert von Chor und Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks.

Nagano setzte weiter auf Europas Musikkultur. 1989 wurde er musikalischer Leiter der Opéra National de Lyon, ferner Chef des traditionsreichen Hallé Orchestra in Manchester. Gab sein Debüt an der New Yorker Metropolitan Opera. Im Jahr 2000 wechselte er zum Deutschen Symphonie-Orchester Berlin, konnte dort seine Lust auf experimentelle Konzertprogramme ausleben. Ein Beispiel: Nagano dirigierte das Deutsche Requiem von Brahms weiter gespannt, setzte zwischen die sieben Abschnitte je kurze neue Orchesterreflexionen des Komponisten Wolfgang Rihm.

In einem neuen Buch fragt Kent Nagano: "Wie begreift man, was Haltung ist?" Hier zu sehen ist der Dirigent mit Musikern des "Chamber Orchestra of Europe", bei einer Probe 1999 in Köln. (Foto: Hermann Wöstmann/dpa/DPA-SZ)

Wissbegier, die Neugier auf die zeitgenössische Moderne und unkonventionelle Programme trafen auf Naganos Zuneigung zu Altvertrautem, zur Tiefe gewachsener Tradition. So ging er 2006 als Musikchef der Bayerischen Staatsoper nach München, wo er Kirill Petrenko nach sieben kämpferischen Jahren das Pult überlassen musste, übernahm dazu die Chefposition beim Orchestre symphonique de Montréal, später noch eine Gastposition in Göteborg. Seit 2015 ist Nagano, zu seinem späten Glücksempfinden, Musikdirektor an Hamburgs Staatsoper und beim Philharmonischen Staatsorchester dort.

Die Partiturstudien, fortwährendes Dirigieren in Oper und Konzert, der Reisestress - manche Dirigenten muten Gesundheit und Gemüt viel zu. Nagano, auf dem Podium schlank und flexibel geblieben, bietet mit elegantem Habitus und kommunikativer Verbindlichkeit das Gegenbild zum alten Pulttyrannen. Er verteidigt die Schönheit der Musik und liebt sie gerade in ihrer existentiellen Melancholie und Trauer. Ist weise geworden. In den "10 Lessons of Life" fragt er: "Wie verinnerlicht man die Bedeutung von Demut? Wie bewahrt man sich über die Jahre ein Mindestmaß an Offenheit? Wie begreift man, was Haltung ist?" Kent Nagano wird, das ist ihm und uns zu wünschen, seine Musik- und Lebensphilosophie weiter vertiefen.

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