Kempten:Kunst für Flaneure

Sozialbau; Kunst in Kempten

Zahmer Riese: Die Recycling-Skulptur "Springender Tiger" von Mirko Siakkou-Flodin auf dem Bürgerplatz Thingers ist auf Mulch gebettet.

(Foto: die Sozialbau)

60 Tage lang prägen sechs Installationen öffentliche Plätze - und gehören ganz natürlich zum Stadtleben

Von Yvonne Poppek

Die Herzen sind mit rotem Lippenstift an die Wand gemalt. Liebe, Liebe, Liebe. Wer hier wen liebt, verraten sie nicht. Die Herzen steigen an der weißen Wand wie Luftballons auf. Auch grüne Herzchen gibt es, andere sind mit Bleistift gezeichnet. Dazwischen taucht immer wieder das Wort "Heimat" auf. "Heimat ist geil", steht da zum Beispiel. Oder: "Die Heimat hat mich geprägt und ich bleibe so lange hier, bis man es ihr ansieht." Oder auch: "Warum werden Menschen, die hier leben, arbeiten, spielen, lernen, lachen und wohnen als ,Fremde' bezeichnet?"

Die "Heimat", so viel steht fest, hat sich ein bisschen verändert, seit sie auf dem August-Fischer-Platz in Kempten steht. Den kleinen aus Holz gezimmerten Raum, in dem gerade zwei Stühle und ein Tischchen Platz finden, haben einige besucht. Manche haben ihre Gedanken an die Wand gemalt, sodass die "Heimat" jetzt so aussieht wie eine altgediente WC-Kabine. Manche haben auch etwas vom ursprünglichen Inventar mitgenommen. Aber Veränderungen hat der Künstler Hans Panschar bei seiner Installation eingeplant.

Seine interaktive und begehbare Arbeit ist eine von sechs Kunstwerken, die derzeit an sechs Plätzen in Kempten stehen. Sie sind ein temporäres Geschenk der Wohnungs- und Städtebau GmbH "Sozialbau Kempten" an die Bürger und Flaneure. Mit "60 Tagen Kunst für Dich" feiert das Unternehmen sein 60-jähriges Bestehen. Ausstellung statt Buffet ist die Devise.

88 Künstler haben sich dafür beworben, sagt Geschäftsführer Herbert Singer. Die Objekte seien nicht eigens für die Plätze geschaffen worden. Die Wahl, welches Objekt, welcher Platz, traf eine Jury. Und so steht eben die Installation "Heimat" auf dem August-Fischer-Platz, ein wenig versetzt zum Eingang in das riesige Einkaufszentrum Forum Allgäu. Neben den aufgespannten Sonnenschirmen eines Cafés muss man das Holzkonstrukt ein wenig suchen. Zum Glück steht es auf einem Kunstrasen, blaue Klappliegestühle säumen das Objekt. Es wirkt ein bisschen wie eine Insel im Strudel der Passanten. Und wer im Inneren Platz nimmt, fällt ein wenig aus der Zeit, kann über Heimat nachdenken oder über Krakeleien an stillen Orten.

Eine Runde durch Kemptens Stadtzentrum führt an weiteren vier Kunstwerken vorbei. Direkt eingangs der Fußgängerzone wartet Tim David Trillsams "Seelsorger". Der überdimensionierte Käfer aus Stahl mit glänzenden Flügeln ist ein wenig verstümmelt. Ursprünglich trug er ein Männlein auf dem Rücken, Trillsam spielte mit der Idee einer verkehrten Welt, indem er die Relationen verschob. Doch das Männlein fiel dem Vandalismus zum Opfer, nun steckt eine Platte mit Spiegeloberfläche auf den Flügeln. Die geometrisch-starre Form und das Material widersetzen sich der eigentlichen Arbeit. "Vandalismus. Ein Spiegel der Gesellschaft?" ist auf der Platte zu lesen. Der "Seelsorger" ist zu einem seltsamen Mahnmal geworden, ein Minotaurus, halb Kunst, halb Baustein mit Botschaft.

Dennoch setzt er einen auf die Spur durch die Stadt, weiter zur Freitreppe, an deren Fuß Markus Elhardts Stahlskulptur "Franz" jubiliert. Sein Blau passt gut zu dem Blau der Sozialbau-Klappstühle, die auch hier stehen und auf denen sich Passanten niedergelassen haben. Kunst und Klappstühle scheinen in Kempten auf das Selbstverständlichste vereinnahmt zu werden. Man genießt, ruht und guckt, mal hin, mal vorbei. Zu beobachten ist kein Staunen, sondern ein Akzeptieren, ein sehr pragmatischer Zugang zur Kunst. Sie wird dem Stadtleben einverleibt und dadurch auf eine hemdsärmelig-charmante Art geerdet.

Das gilt auch bei Franziska Agrawals Installation "Cambodunum", die am Rathausplatz steht. In einer langen Reihe hat sie quadratische Holzrahmen arrangiert, die wie Hausgerippe aus dem Boden ragen, die aber gerne wie ein Tunnel durchquert werden. Nuë Ammann hat mit "Gastfreundschaft braucht ein Zuhause" eine lange Tafel am Sankt-Mang-Platz aufgebaut, die zum Verweilen einladen soll. Und Mirko Siakkou-Flodin hat im Stadtteil Thingers seinen "Springenden Tiger" gleich auf Mulch gesetzt, sodass Kinder auf seiner Skulptur aus Edelstahlschrott und Altreifen sicher klettern können. So erzeugen die Kunstwerke ein unverkrampftes Innehalten - sei es zum Begucken oder zum Bespielen. Und dass das Warum erst einmal egal ist, macht diese Ausstellung wunderbar entspannt.

60 Tage Kunst für Kempten, bis 12. September

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