Kartografie:Die See bleibt offen

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Die phantastische Geschichte einer alten Seekarte, chinesischer Herkunft. Ihre Dimension, ihre Bedeutung, ihre Wiederentdeckung.

Von Harald Eggebrecht

Selten geschieht es, dass ein Buch so viele verschiedene Regungen erweckt und so viele Erregungen zu befriedigen weiß, von denen manche erst beim Lesen entstehen: Neugier und Wissbegier, Spannung und Abenteuerlust, Überraschung und Freude am Suchen und Finden, schließlich Spaß am Rätsellösen und an der Erhellung von Unwissenheit. Timothy Brook, bekannter Sinologe mit besonderem Gewicht auf der Sozial- und Kulturgeschichte der Ming-Dynastie, Dozent in Oxford und Professor an der University of British Columbia in Vancouver, Kanada, hat es geschrieben, und es ist wieder einmal ein glänzender Beleg für die angelsächsische Fähigkeit, auch strenge wissenschaftliche Recherche stets in einen so wunderbar plausiblen Erzählzusammenhang zu bringen, dass weder der Fachmann noch der interessierte Leser enttäuscht wird, sondern am Ende beide wahrlich mehr wissen und einen helleren Blick auf die Welt haben können als zuvor.

Der Einstieg in dieses außergewöhnliche Labyrinth, das nicht nur ins England Shakespeares und Ben Jonsons führt, sondern auch in die verzwickten Handelsvernetzungen im Chinesischen Meer zwischen Chinesen, Europäern, Japanern, aber auch in die Streitereien, ob das Meer offen und frei sei für jedermann oder ob es wie Land in Besitz genommen und damit Eigentum eines Landes werden könne, der Einstieg ist eine Karte, 160 cm lang und 96 1/2cm breit, die in der ehrwürdigen Bodleian Library in Oxford 2009 entdeckt wurde. Sie stammt aus dem Besitz des britischen Rechtsgelehrten John Selden, der sie mit anderen Bücherschätzen der Bibliothek 1654 testamentarisch vermacht hat. Mehr als vierhundert Jahre ruht diese "Karte von China daselbst und in Farbe gemacht" im Dunkel der Bibliothek. Dann wird sie wiederentdeckt, Timothy Brook schaut sie sich an, und für ihn ist, nach seiner ausgedehnten Forschungsarbeit, dies "die bedeutendste chinesische Karte der vergangenen sieben Jahrhunderte und stellt jenen Teil der Welt dar, den die Chinesen seinerzeit kannten: vom Indischen Ozean im Westen bis zu den Gewürzinseln im Osten und von Java im Süden bis zu Japan im Norden". Weil John Selden sie aufbewahrte, obwohl er die chinesischen Schriftzeichen nicht lesen konnte, ist sie erhalten geblieben, ein absolutes Unikat, von Hand gezeichnet und gemalt.

Ein Porträt von John Selden im späteren Leben. (Foto: National Portrait Gallery, London)

Brook begibt sich nun auf nahezu alle Spuren, die sich von der Karte aus verfolgen lassen. Also lernen wir erst einmal den großen John Selden kennen, den juristischen Gegenspieler des nicht minder großen Niederländers Hugo Grotius, der eben das Mare Liberum, die freie See, propagierte im Sinne seiner Auftraggeber, der Niederländischen Vereinigten Ostindienkompanie, die Freihandel gewährleistet sehen wollte auf allen Meeren. John Selden hielt im Auftrag der britischen Krone dagegen mit Mare clausum, die geschlossene See. Beide Traktate gehören zu den Gründungsschriften des modernen Völkerrechts. So wie Brook einem Leben, Streben, Forschen und Schreiben im nachelisabethanischen England farbenprächtig und saftig nahebringt, dringt er auch in die Welt des Handels und Wandels in den Gewässern der Ming-Dynastie ein, wo Europäer und Asiaten nichts anderes als Geschäfte machen wollten. Er erzählt vom chinesischen Enzyklopädisten Zhang Huang, der das Wissen seiner Zeit festhielt, oder von Zhang Xie, der sich meerverliebt in eine "Studie der östlichen und westlichen Meere" vertiefte, aber selbst wohl nie in See gestochen ist. Natürlich muss Brook auch die sehr unterschiedlichen Verfahrensweisen und Ansichten von europäischen und chinesischen Kartografen erläutern, um der ominösen Karte des Mr. Selden in ihrer Entstehung und Besonderheit näherzukommen, sie besser lesen und verstehen zu können.

Allmählich entfaltet sich, all diesen Pfaden und Expeditionen folgend, ein ungemein vielgestaltiges tiefenscharfes Bild einer ganzen Weltepoche, ein Panorama des globalen Handels, der gegenseitigen Interessenverwicklungen und -klärungen, ein reger Austausch von Handelsgütern, ebenso von Wissen und Kunst. Anfangs unmerklich, aber dann unausweichlich wird die ungeheure Aufbruchs- und Veränderungskraft dieses Austauschs um die ganze Welt klar, der alle und alles ergreift und berührt, der in Shakespeares "Sturm" genauso hineinspielt wie er die Entstehung des Orientalismus und der ostasiatischen Wissenschaften befördert, damit auch die wachsenden Bibliotheken. Und der Streit um freie und geschlossene See wirkt aktuell fort: etwa in den brisanten Streitereien zwischen China und seinen Nachbarn um den Besitz von Inseln aus strategischen oder ökonomischen Gründen.

Die Karte in georeferenzierter Form, das heißt den heutigen geologischen Daten und Koordinaten angepasst. (Foto: Bodleian LibraryStudio Peter Lely)

Am Ende all dieser fesselnden Ausfahrten, dieser Untersuchungen von chinesischen Kompassen, der Lektüre von Tagebüchern der Navigatoren und Abenteurer - man denke etwa an den englischen Steuermann Will Adams, der 1600 in Japan strandete und dessen Schicksal James Clavell für seinen Bestseller "Shogun" benutzte - wendet Brook seinen bewundernd-prüfenden Blick erneut der Karte zu, die nun einige ihrer Geheimnisse preisgibt: dass sie nämlich keine Landkarte, sondern eine Karte ist, die die Handelsrouten im chinesischen Meer auf einzigartige Weise festhält. Wie verblüffend und genial genau der immer noch anonyme chinesische Kartograf dabei vorging, das muss jeder in diesem hinreißend geschichtenreichen Buch selbst lesen.

Timothy Brook: Wie China nach Europa kam. Die unerhörte Karte des Mr. Selden. Aus dem Englischen von Robin Cackett. Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2015. 224 Seiten, 24,90 Euro.

© SZ vom 13.10.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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