"Warum habe ich Karl May gelesen, jahrelang? Weil ich mir rettbar vorkommen wollte, ob im Balkan oder in den Händen von Indianern", sagte Martin Walser einmal über den von ihm bewunderten "Prärie-Schiller aus dem Erzgebirge" - eine Anspielung wohl auf Thomas Mann, der vom "Ewig-Knabenhaften" bei Schiller gesprochen hatte, seiner "Lust am höheren Indianerspiel".
Gerettet werden - das wollten Generationen von Karl-May-Lesern, erlöst von sich selbst durch die phantastische Entgrenzung in die abenteuerlichen Traumwelten des Orients oder des Wilden Westens. Thomas Manns ältester Sohn Klaus sah in Karl May gar den "Cowboy-Mentor" des wie viele andere NS-Größen bekennenden "Winnetou"-Lesers Adolf Hitler und deutete das Dritte Reich als katastrophale Erfüllung seiner Träume, als dessen endgültigen Triumph.
Doch waren nicht bereits das kurze Kapitel des deutschen Kolonialismus und der Versuch, mit dem Flottenbau im wilhelminischen Kaiserreich aus dem Pickelhauben-Deutschland eine weltläufige Nation von Seefahrern zu machen, Ideen inspirierter Karl-May-Leser, die mit dessen Büchern im Gepäck in alle Welt ausschwärmten?
Von diesen zivilisationsmüden Aussteigern, die Anfang des 20. Jahrhunderts Deutschland den Rücken kehrten und sich einschifften in Richtung Bismarck-Archipel, um dort ein neues Deutschland zu gründen, handelt Christian Kracht in seinem Roman "Imperium". Und wenn sie, getrieben von Abenteuerlust, Südsee-Romantik und esoterischem Sendungsbewusstsein, auf dem Oberdeck des Ozeandampfers "Prinz Waldemar" nicht über der Deutschen Kolonialzeitung eingenickt wären, um schmatzend von "barbusigen dunkelbraunen Negermädchen" zu träumen - sie hätten sich ebenso gut von einer der weniger bekannten Südsee-Erzählungen Karl Mays wie "Der Ehri" oder "Der Kiang-lu" in den Verdauungsschlaf wiegen lassen können.
Faustische Sinnsucher an entlegenen Schauplätzen
In seinem fulminanten Abenteuerroman erzählt Kracht vom deutschen Fernweh in seiner expansiven Spielart. Er leuchtet dabei jenen nihilistischen Hintergrund der Décadence aus, der Karl Mays Wirkungsmacht erst zur Entfaltung brachte. Denn was ist der edle Wilde anderes als ein Zarathustra im Baströckchen? Aber Krachts Schelmenstück ist nicht die einzige belletristische Neuerscheinung, die Karl Mays Exotismus in die Gegenwart fortschreibt und Nachfahren seiner faustischen Sinnsucher an dessen entlegenen Lieblingschauplätzen aufgreift.
In Wolfgang Herrndorfs gerade mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman "Sand" setzt eine Hippie-Kommune ihre Utopie vom autarken Leben in den Wüstensand der Sahara, die Karl May so oft als Projektionsfläche diente. Und in Walter Kappachers neuem Buch "Land der roten Steine" durchkämmt ein pensionierter Arzt die Canyons des amerikanischen Westens nach einer neuen Sinngebung und findet in den wilden Schluchten sein Paradies. Die Erhabenheit der Landschaft paart sich da mit alten indianischen Weisheiten, an denen sich der Held des Romans wie an einer Heilquelle labt.
Die Karl-May-Leser mögen weniger werden, und heutige Kinder interessieren sich genauso wenig für stolze Apachen-Häuptlinge wie für tollkühne Tuaregs. Doch das literarische Indianer-Spiel, dessen Taufpate Karl May war, es erlebt derzeit eine bemerkenswerte Wiederkehr.