Kaputte Welt:Der fehlende Buchstabe

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(Foto: Kedves)

Von JAn KEDVES

Wenn bei der Welt das L ausfällt, bleiben drei Buchstaben übrig: WET. So leuchtet es in Berlin seit Monaten nachts vom Axel-Springer-Hochhaus herunter, denn das große L in der Leuchtreklame für das publizistische Flaggschiff des Verlags ist, in 78 Meter Höhe über dem neunzehnten Stockwerk, ausgegangen. Die Berliner sind darüber ziemlich amüsiert. Manche halten mit dem Auto am Rand der Lindenstraße an, auf dem Weg von Kreuzberg zum Spittelmarkt, etwa in Höhe des Jüdischen Museums. Sie steigen aus, machen Handyfotos, grinsen. WET. Wie schwer kann es sein, einen störrischen Werbebuchstaben wieder zum Leuchten zu bringen und die Welt zu reparieren?

Unklar ist, wann genau es damit losging. Mitte Oktober fiel der ausgefallene Buchstabe dem Verfasser - er fuhr mit dem Fahrrad vorbei - zum ersten Mal auf. Ende Oktober, Mitte November: immer noch WET. Bizarr! - sagt da niemand Bescheid? Mitte Januar strahlte das L dann wieder, es musste um die Weihnachtszeit oder den Jahreswechsel herum also repariert worden sein. Es strahlte nun sogar viel heller als die anderen drei Buchstaben. Und scheint sich dabei ziemlich verausgabt zu haben. Jetzt ist es nämlich wieder kaputt.

Die schönsten Fantasien ließen sich anstellen. Man ist bei Springer mit dem Einzug in die neue Megaverlagswabe nebenan, die man sich von Rem Koolhaas hat entwerfen lassen, so okkupiert, dass man sich um die alte Reklame auf dem Goldturm von 1966 nicht mehr richtig kümmern kann. Oder es lohnt sich eh nicht, für analoge Werbung dieser Art noch Geld auszugeben, jetzt wo sich doch alles ins Netz verlagert. Dann könnte man allerdings auch die anderen drei Buchstaben ausknipsen. Auch denkbar: Springer möchte den Kreuzbergern, in deren Richtung die Werbung weist, ein bisschen den Stinkefinger zeigen: Ihr lest die Welt ja eh nicht und findet sie doof, warum sollten wir da für euch unser L reparieren? Nun ja, sicher überinterpretiert, zwischendurch funktionierte es ja wieder. Bevor es dann wieder ausfiel. Was ist da los?

© SZ vom 22.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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