Kammerspiele in Gedenken:Dem Schweigen nachgehen

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Gedrechselte Bauernstuben-Ästhetik - doch die Holzarbeiten von Robert Keil werden als Bühnenbild mit ganz anderen Bedeutungen aufgeladen. (Foto: Sven Zellner)

Christiane Huber und Anna Gschnitzer haben Zeitzeugen-Interviews zu einem Stück verdichtet

Von Dirk Wagner, München

"Da lagen die Kinder, sie lagen nackt, nebeneinander auf einem Tisch, es gab nur Stroh. Manche von ihnen waren schon tot, manchen war die Nabelschnur nicht abgebunden worden, und sie haben geblutet, aus der Nabelschnur", erinnert sich die Polin Marianna Jańczak an die sogenannte Ausländerkinder-Pflegestätte in Burgkirchen. Als 16-Jährige wurde sie während des Zweiten Weltkriegs als Zwangsarbeiterin auf einem bayerischen Bauernhof quasi versklavt. Mittlerweile lebt sie in der Nähe von Warschau. Die Künstlerin Christiane Huber interviewte sie dort für einen Dokumentarfilm über die Geschichte der Zwangsarbeiter, die im Raum Altötting sowohl für die Kriegsindustrie als auch in der Landwirtschaft eingesetzt wurden.

"Mich hat das interessiert, weil ich in ganz persönlichen Gesprächen mit meinem Vater, der jetzt schon fast 90 ist, einfach auf Geschichten kam, die er so noch nie erzählt hat, und die man auch so noch nie erzählt hat in der Gegend", sagt Huber, die während ihres Kunststudiums in den USA beschloss, diese Geschichten künstlerisch aufzubereiten: "Und dann bin ich eben diesem Schweigen nachgegangen." Mehr als 60 Stunden Interviewmaterial mit Zeitzeugen sammelte sie; redete mit Menschen, die Jahrzehnte lang geschwiegen hatten und die nun, wie Huber betont, gerne erzählt haben.

Zusammen mit der Münchner Schriftstellerin Anna Gschnitzer hat Huber die Interviews zum Theaterstück "10 Vaterunser" verdichtet, das nun in den Münchner Kammerspielen uraufgeführt wird. Im Münchner NS-Dokumentationszentrum gab es daraus schon im Dezember die performative Lesung "Schön haben sie gesungen", in der die Schauspielerinnen Maria Hafner, Anna Maria Sturm und Weronika Zalewska bereits mit einer kleineren Ausgabe jener gedrechselten Holz-Installation von Robert Keil hantierten, die nun das Bühnenbild prägt.

Die Drechselarbeiten stehen vielleicht für die Beine jener Tische, von denen die bayerischen Zeitzeugen behaupten, dass die Zwangsarbeiter sehr wohl mit ihnen dort zusammengesessen seien, um zu essen. "Die haben schon rein dürfen zum Essen. Im Winter", sagen sie, derweil die Polin sich nur an den Keller voller Kartoffeln erinnert: "Wir haben uns auf die Kartoffeln gesetzt. Die ganze Nacht. Bis zum Morgen, saßen wir da auf den Kartoffeln." Oder aber die gedrechselten Holzstangen stehen für die Felder, auf denen die Zwangsarbeiter eingesetzt wurden: "Die haben gern gearbeitet, denen ist es besser gegangen als zu Hause." Am Ende stehen sie gar für die Knochen der Ermordeten. Für den Polen zum Beispiel, der aufgehängt wurde, weil er ein Verhältnis mit einer Deutschen hatte, deren Kopf zur Strafe auch gleich geschoren wurde. Sie könnten auch stellvertretend für die 160 Kinder der Zwangsarbeiterinnen stehen, die in besagter Ausländerkinder-Pflegestätte zur Welt kamen und deren Mütter sie sofort verlassen mussten, um als Arbeitskräfte wieder eingesetzt zu werden. Die dann verwahrlosten und zwischen anderen Kinderleichen liegend schon nach wenigen Tagen, Wochen oder Monaten krepierten.

"Ihre Körper waren abgemagert, die Augen tief eingesunken in den Höhlen, ihre Haut war ganz dunkel, und es gab offene, tiefe Wunden an den Fersen der Füße, so dass die Knochen des Fußes sichtbar waren", erinnert sich Marianna Jańczak, der es nach solchem Anblick gelang, hochschwanger zurück zum Bauern zu fliehen, wo sie ihr Kind trotz eines geltenden Verbots zur Welt brachte. Das war gegen Kriegsende, und ihre Tochter lebt heute auch in Polen.

Wenn am Ende des Theaterstücks die Schauspielerin Anna Maria Sturm die Namen der in Burgkirchen ermordeten Kinder samt der angegebenen Todesursache Lungenentzündung, Magenkatarrh oder Rachitis, sowie die registrierten Geburts- und Todesdaten verliest, beansprucht das die 20 schwersten Minuten. 20 Minuten, in denen bei der performativen Lesung im Dezember der Schauspielerin immer wieder die Stimmer wegzukippen drohte vor Betroffenheit, während den Zuschauern Tränen in den Augen standen. Dann applaudierten auch sie einem Stück, das endlich ein unerträglich lautes Schweigen bricht.

11 Vaterunser , Samstag, 11., und Sonntag, 12. Januar, jeweils 20 Uhr, Münchner Kammerspiele, Kammer 3, Hildegardstraße 1

© SZ vom 11.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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