Julia Deck: "Privateigentum":Gefährlich aufgeräumt

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Julia Deck: Privateigentum. Aus dem Französischen von Antje Peter. Klaus Wagenbach Verlag Berlin 2020. 144 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

In dieser Geschichte vergisst man leicht, wo oben und unten ist: Die Pariser Autorin Julia Deck hat wieder ein feines, fieses Meisterwerk geschrieben.

Von ALEX RÜHLE

Also, schöner geht doch gar nicht. Ein Häuschen im Grünen, im Umland von Paris, funkelnagelneu, in einer verkehrsberuhigten Straße. Kommet herzu, es ist alles bereit. Auf den Dächern glitzern die Solaranlagen. Die Abfälle werden durch ein unterirdisches Netz automatisch zur Müllverwertungsanlage transportiert. "Das war modern und moralisch einwandfrei zugleich. Wir waren begeistert."

Wir, das sind Eva und ihr Mann Charles Caradec, beide Anfang 50, sie Urbanistin, er anscheinend Privatier, jedenfalls ist er dauernd zuhause. Beide haben das Gefühl, hier endlich angekommen zu sein. Gut, die Straße muss noch mal aufgerissen werden, um Wärmeaustauscher zu installieren. Und diese Lecoqs, die direkten Nachbarn, scheinen doch recht prollig zu sein, er immer laut am Telefonieren, sie mit ihren pornösen Hotpants, dazu ein nerviges Baby und dieser penetrante Kater, der einfach durch alle Gärten streift. Aber sonst ist wirklich tout parfait, die schneeweißen Wände, der buchsbaumumsäumte Garten. "Wir hatten von unserem Wohnzimmer aus noch nie soviel Himmel gesehen."

Dieses Intro erinnert in seiner Mischung aus Immobilienwerbung und Kleinstadtpersiflage an den Anfang von David Lynchs "Blue Velvet", in dem die Kamera die pittoresken Häuserfronten der Kleinstadt Lumberton geradezu abzuschlecken scheint - aber dann liegt da plötzlich ein abgeschnittenes Ohr auf der Wiese. Hier, in der verkehrsberuhigten Seitenstraße der schicken Speicherstadt, liegt eines Morgens der Kater der Nachbarn in der Baugrube. Also die Reste des Katers. Einige Gedärme liegen auch auf der Absperrung der Baustelle rum. Kurz darauf verschwindet Madame Lecoq mit ihrem Sohn. Das war's dann auch schon wieder mit dem Idyll.

Die Pariser Autorin Julia Deck schreibt seit zehn Jahren feine, fiese Meisterwerke. "Privateigentum" passt hervorragend in die Wagenbachreihe "Kleine Romane für eine Nacht". Um im Immobilienjargon zu bleiben: Auf den ersten Blick mutet der Texte an wie ein helles Tiny House, herrlich, wie hier alles am richtigen Ort steht und auf jedes Beschreibungsdetail geachtet wird. Aber kaum hat man sich über die Schwelle des Romans begeben, wirkt vieles suspekt, ja bald unheimlich wie Gregor Schneiders Haus Ur, in dem sich Räume drehen, hinter der Wand ein Ticken zu hören ist und man irgendwann nicht mehr weiß, bin ich hier im Keller oder auf dem Dachboden? Und wo ist eigentlich die Hausherrin hin, die mich gerade noch so zuvorkommend in ihr neues Eigenheim gebeten hat?

In Decks erstem Roman "Viviane Élisabeth Fauville" bringt eine Psychopathin ihren Analytiker um, weil der ihr nicht die Antworten liefert, die sie bei ihm sucht, sondern stattdessen nur immer ihre Fragen an sie zurückspielt. Das nervt natürlich, da muss man schon verstehen, wenn Viviane eines Tages zum Messer greift. Oder hat sie gar nicht? Schon in diesem Erstling hat Julia Deck ihren Text so gestrafft, dass er vom ersten Satz an wie ein perfektes Uhrwerk tickt, alle Federn bis auf Äußerste gespannt. Auch da hat sie unter der Oberfläche eines Krimis ein so scharfsinniges wie gemeines Sozialporträt einer überspannten Bourgeoisie in ständiger Angst vor dem Absturz versteckt. Vor allem aber fiel an diesem Erstling die Erzählstruktur auf: Jedes Kapitel war durch ein anderes Personalpronomen geprägt. Im ersten erzählte "Ich", das zweite richtete sich an ein "Du", das dritte erzählte von einer "sie" und irgendwann sind "wir" eben alle ein bisschen psychopathisch und man weiß nicht mehr Recht, wer nun schuld an was noch mal genau sein soll.

Klingt erstmal nach postmodernem Bullshit-Bingo, kann aber alles zum Indiz werden

In "Privateigentum" wendet sich Eva, die Erzählerin, an ein Du, ihren Mann. Sie arbeitet als Urbanistin am Konzept des "unbestimmten Raumes", das mit architektonischen Modulen arbeitet, "so dass die Anwohner selbst entscheiden können, wie sie den Raum nutzen wollen." Alles kann alles sein, die Architekten halten sich raus. Klingt erstmal nach postmodernem Bullshit-Bingo. Kann aber später, wenn es um tote Tiere und verschwundene Nachbarn geht, auch zum verdächtigen Indiz werden, die Frau drückt sich ja schon in ihrer Arbeit vor aller Verantwortung.

Man bekommt früh mit, dass diese Eva einiges nicht erzählt, ja es wirkt, als stünde sie in ihrer neu erworbenen Immobilie wie auf einer perfekt aufgeräumten Bühne vor dem heruntergelassenen Vorhang, während hinter diesem Vorhang des Schweigens, zwischen den Kapiteln, irgendwo in den Weiten des Weißraums, ganz andere hochinteressante Dinge geschehen. Vieles muss man sich aus Nebensätzen erschließen. Ihr Mann ist einem eingangs durchaus sympathisch mit seinen misanthropischen Kommentaren über die neuen Nachbarn. Er liest begeistert auf der Terrasse anthropologische Bücher, in denen es um "die Entstehung von Gemeinschaften" geht, "ihre Sitten und Gebräuche, die Art und Weise, wie sie zusammenwachsen und sich erhalten und am Ende unweigerlich zerstört werden." Aber dann stellt sich nebenbei heraus, dass er seit 27 Jahren in Therapie ist und nicht mehr arbeiten kann, weil er permanent irgendwelche Mittel nehmen muss. Wenn so jemand eingangs laut darüber sinniert, den nervigen Kater der Nachbarn am besten umzubringen, hat er später sehr schlechte Karten.

Sex scheint erst mal keine Rolle zu spielen, es wirkt, als seien die beiden Mittfünfziger längst sozusagen aus der Vögel- in die Vogelperspektive gerückt, man beobachtet das Treiben der anderen aus der Ferne, und die jungen Frauen auf der Straße gewinnen "wie das Unkraut unter unseren Fenstern immer mehr an Boden." Aber dann mehren sich die Indizien dafür, dass diese Eva immer wieder deftigen Sex mit ihrem Architektenkollegen hat. Wer hier noch nicht gemerkt hat, dass er beim Lesen dieses hochintelligenten Textlabyrinths höllisch aufpassen muss, der läuft Gefahr, dass er irgendwann im falschen Haus steht und plötzlich fliegt ihm alles um die Ohren.

© SZ vom 13.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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