Jonas Grethlein: "Mein Jahr mit Achill":Wenn das Sterben das Lesen ändert

Lesezeit: 3 Min.

In der akuten persönlichen Krise wurde hier die älteste Überlieferung zu einer neuen Perspektive geführt, so funktioniert idealerweise Tradition: Jonas Grethlein, Professor für griechische Literatur an der Universität Heidelberg, neben einer Gipsstatue des Kriegsgottes Ares. (Foto: Ronald Wittek/dpa)

Der Altphilologe Jonas Grethlein erkrankt an Krebs und sieht Homers "Ilias" mit neuen Augen.

Von Burkhard Müller

Dieses Buch beginnt mit einer Anmaßung: "Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben" nennt der klassische Philologe Jonas Grethlein, der in Heidelberg lehrt, sein - ja, was? Am ehesten ist es wohl das, was man seit einiger Zeit Memoir nennt, im Singular und im Gegensatz zu den alten geruhsamen Memoiren im Plural. Mit diesem "Mein" setzt er sich selbst noch vor den Namen des berühmtesten westlichen Helden aller Zeiten; und im Untertitel macht er klar, dass er sich jedenfalls nicht mit Kleinigkeiten aufhalten wird. Man darf also gespannt sein.

Der Autor, aus einer Gelehrtenfamilie stammend, schlägt selbst früh und mit Entschiedenheit diesen Weg ein. Mit nur 27 Jahren habilitiert er sich (über Homers "Ilias", was sonst), geht an eine amerikanische Universität, lebt rasant und als ob am strahlenden Gelingen seines Lebens kein Zweifel möglich wäre. Da trifft ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel die Diagnose: Blasenkrebs. Auf einmal ist der Tod, den er wie alle zuvor nur vom Hörensagen kannte, ganz nah. Der Autor-Erzähler spricht ohne Rückhalt von seiner Angst und den so schmerzlichen wie beschämenden Eingriffen, die die Behandlung mit sich bringt. Unter dem unabweisbaren Zwang der Krankheit beginnt er das ihm vertrauteste Buch, eben die "Ilias" des Homer, nun mit ganz anderen Augen zu lesen.

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Die Figur des Achill erscheint heute als der fremdeste der homerischen Helden

Angelpunkt seiner Lektüre, Grethlein zitiert dabei dankenswerterweise statt aus der zu Unrecht hochgeschätzten hexametrischen Ilias-Version von Voss, aus der jüngeren, freirhythmischen, archaisch-lebendigen Übertragung von Wolfgang Schadewaldt, ist die Figur des Achill. Das liegt einerseits auf der Hand, denn die Ilias führt sich gleich im ersten Vers als das Lied vom Zorn des Achilleus ein. Andererseits aber muss man es doch eine ungewöhnliche Entscheidung nennen, denn Achill erscheint heute als der Fremdeste in diesem großen Aufgebot von Helden, fremder als der gewitzte Odysseus, der überforderte Heerführer Agamemnon, der verantwortungsbewusste Hektor.

Hektor vor allem, der kämpft, nicht weil er will, sondern weil er muss, um seine Mitbürger und seine Familie zu schützen, scheint die schlechthin gegenwartstaugliche Heldenfigur zu sein; Hektor, der, als er zum letzten Mal seiner Frau und seinem kleinen Sohn auf den Mauern von Troja begegnet und das Kind vor dem großen Helmbusch erschrickt, den Helm abnimmt und in Lachen und Weinen zugleich ausbricht: Er ist der eigentliche Antipode des Achill, der in ungezügeltem Affekt auf dem Schlachtfeld rast und in seinem Autismus keinerlei Konventionen und Ansprüche gelten lässt. "Achill das Vieh" ist das stehende Beiwort, mit dem ihn etwa Christa Wolf in ihrer "Kassandra" bedacht hat.

Jonas Grethlein: Mein Jahr mit Achill. Die Ilias, der Tod und das Leben. C.H. Beck, München 2022. 208 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Grethlein gesteht zu: "Dass ein Geisteswissenschaftler sich im 'Besten der Achaier' wiederfindet, mag ähnlich lächerlich klingen, wie wenn ehemalige Zivildienstleistende für Ernst Jüngers 'Marmorklippen' schwärmen oder Bürgerskinder aus Zehlendorf und Winterhude sich für Gangsterrap begeistern (...)." Und doch gibt es da einen schmalen, aber bedeutsamen Überschneidungsbereich: die Intensität des Wissens von der eigenen Sterblichkeit.

Achill hat die Wahl gehabt, ob er lieber ein langes Leben oder den Ruhm wolle, und sich ohne zu zögern für den Ruhm entschieden; immer mehr verdichten sich, noch während er gegen die Feinde wütet, die Hinweise auf seinen eigenen baldigen Tod, und er weicht ihm nicht aus. Nachdem Achill seine Entscheidung getroffen hat, laufen die Ereignisse so unberechenbar und weitgehend unbeeinflussbar ab wie eine Krebserkrankung. Grethlein spricht (und das wird zum Schlüsselwort, das ihn und Achill zusammenkettet) von "Schicksalskontingenz": Das Wichtigste überhaupt, das eigene Leben und Überleben, hängt von Dingen ab, die keine tiefere Notwendigkeit besitzen, aber mit unwidersprechlicher Gewalt ihr Urteil fällen.

Grethlein hat mit seinem Krebs inzwischen mehr als ein Jahrzehnt überstanden

Und noch etwas verbindet die beiden durch drei Jahrtausende getrennten und verbundenen Schicksalsgenossen: Achill, vor der griechischen Philosophie und vor dem Christentum verortet, kennt noch keine echte Jenseitsperspektive; Grethlein, postchristlicher Spätling, kennt sie nicht mehr (obwohl er gelegentlich schwache Versuche zum Gebet unternimmt). Ihnen beiden bietet sich der Tod in seiner nackten Grässlichkeit dar. Als Odysseus lang nach dem Trojanischen Krieg den toten Achill aus dem Hades beschwört und ihn fragt, wie es denn dort unten so sei, antwortet ihm der Beschworene (und Grethlein unterlässt nicht, es zu zitieren): "Ach Odysseus, lieber wäre ich auf Erden der letzte meiner Taglöhner als der König des Totenreichs."

Der Tod ist, was keinen Trost zulässt und doch mit Würde getragen werden kann: Darin stimmen das älteste und das jüngste Denken überein. Grethlein testet auch das Buch Hiob und Heidegger (dem er sich gern anvertrauen würde, der ihn aber durch seinen Jargon abstößt); doch diese geläufigeren Referenzen haben ihm letztlich weniger zu bieten als die "eisige Luft", in der sich der Achill der Ilias bewegt.

Grethlein hat mit seinem Krebs inzwischen mehr als ein Jahrzehnt überstanden. Das gibt Anlass zur Hoffnung; eine Garantie ist es nicht, jeder Tag kann die Wende zum Schlimmen bringen. Und so muss man, trotz des Argwohns, den der grandiose Titel weckt, zum Schluss sagen: Doch, es geht, hier hat der Augenblick der akuten Krise eine alte - die älteste - Überlieferung zu einer neuen Perspektive geführt. So funktioniert idealerweise Tradition.

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