"What light there is":Verehrer des Kalten und Weißen

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John Burnside spricht von sich als Teenager: "ein unkritisches Arbeiterkind, das leicht von Bildern heimgesucht wurde". Zum Beispiel von Pieter Brueghels "Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle". (Foto: Royal Museums of Fine Arts of Belgium)

Ein neues Kapitel der Selbsterforschung von John Burnside: Diesmal über das Sterben, die Kunst und die Frage, wie lange man einem Menschen ins Gesicht schauen darf.

Von Lothar Müller

Eigentlich ist der schottische Schriftsteller John Burnside nicht jemand, der sich gern an überlieferte Formen anschmiegt. In diesem Buch hat er das vor, angeblich. Schon nach wenigen Seiten spricht er von der Ars moriendi als "einer Kunst, die meine kleine Meditation nachzuahmen strebt". Das christliche Erbe der Kunst des Sterbens als Meditationskunst hat er aber gleich zu Beginn ausgeschlagen und eine gewisse Sympathie für das heidnische Denken und dessen Dämonen durchblicken lassen, die der "neue monotheistische Gott, oberster Würfelspieler, der er war" vertrieben hat. Er wünscht sich das Heidentum nicht zurück, er weiß, dass kein Weg in irgendeine Vergangenheit zurückführt.

Aber fast könnten ihn die Leute in dem kleinen Fischerdorf am Firth of Forth, in dem er mal gelebt hat, dennoch ins Heidentum zurücktreiben, wenn sie die roten Ziegelmauern ihrer Räucherkammern und ihrer Ställe mit schwarzem Teer übertünchen, weil ihnen das Rot der Ziegel zu sinnlich und zu lebensbejahend ist. Er sieht solche Restbestände des alten Puritanismus mit dem Grausen eines seiner Kindheitsreligion entlaufenen Katholiken, den nicht die Sorge um sein Seelenheil zur Ars moriendi treibt, sondern eher seine Neugier.

Nicht Glaubenssätze begleiten ihn oder Kataloge der Versuchungen, denen es auf dem Weg zum Tode standzuhalten gilt, sondern seine Kollegen, moderne Dichter und Denker, William Wordsworth und Matthew Arnold, vor allem der erzirdische Walt Whitman. Es gehört zur Ars moriendi, über Texte zu meditieren. Kurz und bündig formuliert Ludwig Wittgenstein zu Beginn eines berühmten Paragrafen aus seinem "Tractatus logico-philosophicus" die Grundeinsicht: "Der Tod ist kein Ereignis des Lebens. Den Tod erlebt man nicht."

"Ins Licht oder die Dunkelheit aber geht jeder von uns allein."

Was aber kommt danach? Mit dem christlichen Gott hat Burnside auch die Vorstellung eines persönlichen Weiterlebens nach dem Tod verabschiedet, "vollkommen bizarr" erscheint ihm der Himmel des monotheistischen Gottes. Mit Wittgenstein zieht er sich auf die Sterblichkeit und das Grundmuster der Ars moriendi zurück, das "media in vita in morte sumus", die Todverfallenheit mitten im Leben, die Untrennbarkeit von Leben und Sterben. Das bleibt auch für nichtchristliche Seelen: die Ars moriendi als Vorbereitung auf das Unvermeidliche.

Zwar ist Wittgensteins Prägnanz unerreichbar, doch lässt es sich Burnside nicht nehmen, über den Tod zu grübeln. "Was Außenstehende sehen, was im Bericht des Arztes steht, ist das eine, was aber in Kopf und Seele des Menschen geschieht, der seine sterbliche Hülle verlässt, ist etwas, worüber wir nichts wissen." "Ins Licht oder die Dunkelheit aber geht jeder von uns allein." Es sind nicht Sätze wie diese, die aufhorchen lassen, nicht die alltagsphilosophischen Aufschwünge. Lesenswert wird diese Ars moriendi durch diejenigen Passagen, in denen Burnside so scheibt, wie er es am besten kann, als Erzähler, der mit Verwunderung und häufig einem gewissen Schaudern auf eigenen und fremden Lebensstoff blickt wie in "Lügen über meinen Vater" (2006) oder zuletzt in "Über Liebe und Magie - I put a spell on you" (2014). Wer eines dieser Bücher kennt, der kennt die Herkunftswelt von John Burnside, die Musik und Filme, die ihn geprägt haben, hat die Nina-Simone-Version von "I put a spell on you" im Ohr.

Daran knüpft Burnside in diesem schmalen Buch an, als ein alternder Mann, Jahrgang 1955, dessen Ars moriendi, das Meditieren über die Sterblichkeit, weniger im Vorausblick auf den Tod als im Rückblick auf das eigene Leben besteht. Manchmal behauptet er, über das Sterben als Kunst nachzudenken, aber diese Verbeugungen vor dem alten Genre sind rasch absolviert, sie sind von geringerer Leuchtkraft als die markanten Erinnerungsbilder. Der Teenager Burnside tritt auf, "ein unkritisches Arbeiterkind, das leicht von Bildern heimgesucht wurde" und in der Kunstbuchabteilung der Stadtbibliothek die holländische und flämische Landschaftsmalerei entdeckt, vor allem die Bilder der Kälte, Jan van Goyens "Eislandschaft mit Schlittschuhläufern" oder Pieter Brueghels "Winterlandschaft mit Eisläufern und Vogelfalle", und dadurch zu einem Verehrer alles Kalten und Weißen wird. So wird Wallace Stevens' Gedicht "Der Schneemann" zum festen Bestandteil der Innenwelt Burnsides, umrahmt von Schilderungen des geschäftemachenden Budenzaubers auf der zugefrorenen Themse 1684, von Filmfiguren, die in einem alpinen Schneesturm verschwinden oder ins Eis gehen wie Captain Oates bei der gescheiterten, in den Tod führenden Südpolexpedition von Robert Falcon Scott.

Der Schriftsteller John Burnside, 1955 in Dunfermline, Schottland geboren, hier 2014 in Berlin. (Foto: Regina Schmeken/SZ Photo)

"Das Kino", heißt es einmal, "meine einzige Kirche, war auch meine Schule." Wenn überhaupt, dann wird bei Burnside in dieser Kirche, dieser Schule die Ars moriendi, die Kunst des Sterbens gelehrt. Nicht nur im geschauspielerten Tod, sondern vor allem in den langen Blicken, die auf großer Leinwand geworfen werfen. Sie inspirieren Burnside zu einer großen Hommage an das europäische Arthouse-Kino, weil hier die Kunst auf eines seiner großen Lebensthemen trifft, die Unfähigkeit, jemandem ins Auge zu sehen. Vielleicht ist dies das Zentrum in diesem schmalen Buch, die Erinnerung an die Eltern, die es unter keinen Umständen mochten, angeschaut zu werden, an das Aufwachsen "in dieser ausweichenden, blicklosen Welt, in der es einem körperlichen Angriff gleicht, sieht man jemandem eine Millisekunde zu lang ins Gesicht", und dann der Offenbarung von Gesichtern im Kino, die man lange betrachten darf, wie sie ihre Gefühle durchleben: "Ich durfte meinen Blick auf dem Gesicht eines anderen Menschen ruhen lassen, der zugleich eine reale Person und eine Illusion war."

An die Seite der Arthouse-Filme, des Film noir und der Blicke von Orson Welles im "Dritten Mann" treten die Porträtfotografien von Richard Avedon, der die letzten Lebensjahre seines Vaters bis kurz vor dessen Tod begleitet, und die Menschen, die Andy Warhol in seinen "Screen Tests" vor seine Kamera gesetzt hat, in eine Situation, in der nichts geschieht, außer dass die Zeit vergeht. "Für die angeschaute Person ist der Blick eine Erinnerung an die eigene Sterblichkeit, deren Bestätigung. Deshalb darf der König nie direkt angesehen werden: Starren ihn genügend Untertanen an, verflüchtigt sich seine Macht."

Weniger in seinen Reflexionen und Meditationen als wie hier in den physiognomischen Kommentaren zu Gedichten, Bildern, Kinofilmen und bösen Balladen wie "The Knoxville Girl" wird greifbar, woraus sich Burnsides Ars moriendi speist. Sie ist, wie alles, was er schreibt, schon ehe es diesen Begriff gab, "Autofiction". Dazu gehören auch Tagträume, Visionen wie die vom geistigen Doppelgänger, "der irgendwo in Amerikas Mittlerem Westen lebt, sagen wir im südlichen Illinois oder in Virginia". Dieser Doppelgänger lebt in einer Kleinstadt mit einer sehr großen Maine-Coon-Katze namens Granger zusammen, von der man annehmen darf, dass sie nach dem Schauspieler Stewart Granger benannt ist, und hat markante Vorlieben und Abneigungen. Er macht sich während eines Unwetters eine Kanne grünen Tee und hört aus dem Regen das Geräusch der Zeit heraus, "auch der Zeit, die dem Ende zugeht". Er ist kein schlechter Doppelgänger seines Autors.

John Burnside: What light there is. Über die Schönheit des Moments. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Haymon Verlag, Innsbruck und Wien 2020. 176 Seiten, 19,90 Euro.

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