Der große Rummelplatz "Geschichte" ist für Autoren wie Laurent Binet ein Bauklötzchenspiel. Man zieht ein Klötzchen weg, schiebt ein anderes dazwischen, und schon sieht die Welt anders aus. Bei der historischen Postfiktion vom Anschlag auf den Naziführer Heydrich 1942 im Roman "HHhH", der diesen Schriftsteller vor zehn Jahren bekannt machte, wurde der Unterschied zwischen dokumentierter und erfundener Realität noch ausdrücklich mitreflektiert. In diesem neuen Roman ist das nicht mehr der Fall. Die Geschichte vom Anfang unserer Neuzeit verläuft hier diskussionslos einfach ganz anders, als wir sie kennen. Der Erzähler ist Herr seiner Sache.
Christoph Kolumbus, der am 27. November 1492 in seinem Tagebuch Ihrer Hoheit, dem spanischen Königshaus, noch stolz versichert, sie würde in den von ihm entdeckten neuen Gebieten Städte und Festungen bauen und die Leute zum richtigen Glauben bekehren, scheitert letztlich in seiner Mission. Seine Schiffe La Niña und La Pinta werden an den Ufern des vermeintlichen Cipango von den Ortsbewohnern gekapert, und ausgerechnet am Weihnachtstag muss er dann auch machtlos vom Ufer aus mit ansehen, wie das ihm ebenfalls entwendete Hauptschiff krachend auf ein Felsenriff läuft.
Im Kampf gegen die übermächtigen Indios kommen die Spanier nicht an. Nackt, wie die Primitiven zu seiner Verwunderung bei der Ankunft es waren, wird Kolumbus vor den König der Insel geführt, der Näheres über das Land seiner Herkunft erfahren will. In der Hofgesellschaft darf der Fremde zwar die eine oder andere Cohiba mitrauchen. Als schließlich letzter überlebender Gefangener muss er sich aber mit dem Gedanken abfinden, dass er Spanien nie mehr sehen würde und am Hof dort wohl schon lange vergessen sei. Im März 1493 hört die Datierung seiner Tagebucheintragungen auf. Was ist hier schiefgegangen?
Antikörper und Pferde halfen, sich gegen die Europäer zu behaupten
Den Schlüssel zur Antwort liefert Binet im ersten Kapitel seines Romans. Ein paar Jahrhunderte zuvor hatte ein norwegischer Bauer wegen Streiterei mit dem Nachbarn sein Land verlassen müssen und war mit seinen Leuten über Island nach Grönland gekommen. Von dort ging die Wanderschaft der Wikinger dann der Küste entlang über Kuba, Mexiko, Panama weiter bis ins Land der Inka. Die Kontakte zu den jeweiligen Völkern waren bald kriegerisch, bald freundschaftlich gewesen.
Die Einwanderer fanden Geschmack an den außen knackigen, innen saftigen goldgelben Körnern, von denen die Einheimischen sich ernährten. In ihrem Tross brachten sie wiederum Pferde, Eisengeräte und für die Indios verhängnisvolle Viren mit. Manche Völker überstanden aber die Epidemien. Und genau solche Dinge wie Antikörper, Eisenverarbeitung für Pfeilspitzen, Pferde fürs schnelle Vorankommen waren es, die ihnen später halfen, sich gegen die Expedition aus Europa zu behaupten.
Binet erzählt das alles in groben Zügen und verrät sein Talent für unterschiedliche narrative Register. Trifft er im Eingangskapitel von den Abenteuern der Wikinger den harschen Ton mittelalterlicher Heldensagen, in denen das Schwert stets schneller ist als die Zunge, so wechselt er in den "Fragmenten aus dem Tagebuch des Christoph Kolumbus" zum Stil gewundener Wortschleimerei aus Unterwürfigkeit und Gottesgefälligkeit. Doch ist das alles nur Vorgeschichte zum Hauptteil des Romans.
Wegen eines Krieges brechen die Inka nach Europa auf
In den Weiten zwischen Urwald und dem Hochland von Quito nämlich, über die sich das stolze Inkareich der "Vier Weltteile" erstreckt, ist es bei der Erbfolge zum Krieg zwischen zwei Halbbrüdern gekommen. Atahualpa wird von Huascar bis hinab an die Strände Kubas verfolgt und weiß dort nicht mehr weiter. "Die Antwort liegt vor euch", sagt die kubanische Königstochter zu ihm und zeigt aufs Meer.
Am Strand liegen noch die Schiffe der Spanier, dessen Kapitän die Kubanerin in jungen Jahren persönlich gekannt hat. Das Holz dieser Schiffe ist zwar angefault, doch sind sie bald repariert. Und selbst die Seekarten sind noch da. Mögen zwar Atahualpas Leute sie nicht recht zu deuten wissen, stechen sie doch mutig in See und kommen ein paar Wochen später heil in Lissabon an, wegen den Verwüstungen eines Erdbebens von den Einwohnern dort allerdings zunächst kaum bemerkt.
Was Binet in den "Atahualpa-Chroniken" seines Romans nun vor uns entfaltet, ist ein Husarenritt durchs Europa von Inquisition, Religions- und Bauernkriegen, des sich ausbreitenden Geists der Renaissance, der Spannungen zwischen Kaiser und Papst, des vom Südosten hereindrängenden Osmanischen Reichs. Den Indios kommt da vieles absonderlich vor.
Binet setzt das seit Montesquieus "Persischen Briefen" beliebte literarische Verfahren, durch Blickverkehrung das uns Vertraute fremdartig zu machen, jedoch behutsam ein. Allenfalls ein paar Essgewohnheiten, Bekleidungsformen oder die seltsame Art der Leute, mit der Hand Stirn, Brust und Schultern zu berühren vor einem an zwei gekreuzte Holzbalken genagelten Gott, verwundern die Ankömmlinge.
Luthers Reform ist vereinbar mit dem Sonnenkult der Inka
Atahualpa ist indessen ein praktisch denkender Mensch. Er lernt schnell und findet in den Schriften eines Italieners namens Machiavelli nützliche Lehren für seine Ziele. Den an zu vielen Fronten beschäftigten Habsburger Karl V. hat er bald ausgeschaltet und in der Alhambra eingesperrt. Den deutschen Unruhestifter Luther hingegen will er dazu einsetzen, in Europa ein neues Reich des "Fünften Weltteils" zu errichten.
Denn ist Luthers gegen Rom gerichtete Verinnerlichung der Religion nicht als Variante des Sonnenkults der Inkas umzudeuten, den der neue Herrscher in Europa einführen will? Jeder glaube, was ihm beliebt, solang er jährlich das imperiale Sonnenfest respektiert.
Bestürzt schreibt Thomas Morus an den greisen Erasmus in Freiburg, dass König Henry sich zum neuen Sonnenkult bekehren wolle, weil er die Polygamie erlaube und eine Lösung für seinen Konflikt mit Rom bringe. Feierlich wird Atahualpa in Aachen zum Kaiser gekrönt. Lorenzino de Medici bringt ihm Michelangelo mit, der Statuen des Sonnengotts entwirft und für den dem mexikanischen Reich hörigen französischen König Franz I. im Pariser Louvre eine Monumentalpyramide baut. Die Fantasie galoppiert dem Autor manchmal davon, das Erzählstakkato läuft heiß. Figuren wie Melanchton oder Karl V. wirken nicht ganz glaubwürdig.
Manche Kritiker wandten ein, dass das Buch gesteigerter Eurozentrismus sei. Selbst die Waffen gegen die europäischen Eroberer würden den Fremden hier von Europa geliefert und die Inkakultur bleibe bloße Kulisse. Doch so will es nun einmal das Genre der Eigenspiegelung im Fremden. Korrekte Ausgewogenheit und Rehabilitierung des "Anderen" ist nicht die Absicht dieses Romans, dessen Originaltitel in Anspielung auf eine berühmte Computerspielserie von Sid Meier "Civilizations" heißt. Binets Roman ist ein großer Spaß in jeder Hinsicht, vom Übersetzer kundig und elegant durchs Labyrinth enormer Gelehrsamkeit gesteuert.
Laurent Binet: Eroberung. Roman. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Rowohlt Verlag, Hamburg 2020. 383 Seiten, 24 Euro.