Mit dem Schlagwort "Das Alte Testament der Klavierspieler" rühmte der Pianist und Dirigent Hans von Bülow das "Wohltemperierte Klavier" Johann Sebastian Bachs, die Perlenkette der 24 Präludien und Fugen durch alle Dur- und Molltonarten hindurch. Das fromme Qualitätssiegel aus dem 19. Jahrhundert hat seine Glaubwürdigkeit bewahrt, genauso Bülows Ergänzung, das "Neue Testament" seien die 32 Klaviersonaten Ludwig van Beethovens. Seltsam, für manchen verstörend, mag sein, dass Bach seinen Tastenzyklus vermutlich in einer Weimarer Arrestzelle zu komponieren begonnen hatte, wo er im Herbst 1717 einen Monat lang einsitzen musste. Den Raum gibt es noch im Stadtschloss zu Weimar, er lässt sich in Augenschein nehmen. Doch davon später.
Man schrieb das Jahr 1722, als Johann Sebastian Bach (1685 - 1750), damals Kapellmeister am kleinen Hof des Fürsten Leopold im anhaltinischen Köthen und noch nicht Thomaskantor in Leipzig, das "Wohltemperierte Klavier" vollendete. Seine thüringische Geburtsstadt Eisenach nimmt das runde Jahrhundertdatum jetzt ernst und präsentiert in der Gedenkstätte Bachhaus eine zweiteilige Sonderausstellung mit dem Titel: "Das Alte Testament der Klavierspieler", sie läuft bis zum 6. November. Die Rede ist vom ersten Band des Zyklus, Bach hat zwei Jahrzehnte später das Projekt noch einmal alternativ durchdacht und komponiert. Jörg Hansen, Bachhausdirektor und Ausstellungskurator, will das Tastenkompendium und seine Entstehung in aller Kürze und Dichte dokumentieren, die historischen und theoretischen Probleme wenigstens ansatzweise zeigen. Im Zentrum stehen die diffizilen Fragen um die alten Stimmungen der Klaviertasten.
Die spekulativen Umstände der Werkidee füllen den ersten Raum. Dabei lassen sich Form und Struktur des "Wohltemperierten Klaviers" im Grunde kinderleicht herzeigen: Sichtbar auf jeder Klaviertastatur, vom C, über Cis, D, Dis bis zum H liegt die chromatische Tonleiter. Bach widmet aufsteigend jedem Ton zwei "Präludium und Fugen"-Paare, das erste in Dur, das zweite in Moll, macht insgesamt 24 Paare. Dass Bach die Sätze aber in den verschiedenen Tonarten sauber ausführen konnte, hatte allerdings zur Voraussetzung, dass das Phänomen der damals noch verbreiteten unsauberen Ton-Stimmungen wie etwa der mitteltönigen Stimmung beseitigt werden musste.
Vermutlich verwendete Bach eine neuartige Stimmung, um gut durch alle Tonarten zu kommen
Die mitteltönige Stimmung machte jedes Tasteninstrument zum Abenteuerspielplatz. Die Eisenacher Ausstellung demonstriert das in Texten, Farbzuordnungen, Zeichnungen und mit Apparaturen: Nur 14 Tonarten galten bis ins 17. Jahrhundert auf Tasten als halbwegs spiel- weil anhörbar. Alle anderen, vom C weiter entfernte wie das exotische h-Moll oder Fis-Dur, muteten zunehmend verstimmt an, schief und schräg. Viele Versuche der Korrektur hatte es in der Musikhistorie gegeben, diesen farbenprächtigen Missstand auszugleichen. Anhand einer elektronischen Klaviertastatur kann der Besucher mit den Klangabweichungen einiger historischer Stimmungssysteme hörend experimentieren.
Ein Organist in Halberstadt namens Andreas Werckmeister legte dann 1691 sein System einer gleichschwebenden Temperatur für Tasteninstrumente vor, bei der er die Tonleiter auf der Klaviatur in zwölf gleiche Halbtöne teilte. Das ergibt den auf jedem heutigen Steinway wohltemperierten, wenn auch mehr glatt mechanisierten als belebt atmenden Klang. Aus den unreinen Intervallen wurden so die normalisierten "reinen". Vermutlich verwendete Bach solch ein wohltemperiertes System, um gut durch alle Tonarten zu kommen.
Mit den Präludien und Fugen befestigte Bach vehement die Möglichkeit, in allen Tonarten ebenmäßig zu komponieren, vor allem innerhalb einzelner Stücke die Tonarten kombinatorisch zu modulieren. Die Ausstellung demonstriert, dass die Komponisten nach Bach den Zyklus musikalischer Erfindung nicht nur als schematisches Lehrbuch nutzten, sondern dank Bachs musikalischem Genie als Wunderwerk logischen Denkens und poetischen Fantasierens in Tönen. Ludwig van Beethoven hat das in seinem berühmten Bonmot mehr als nur angedeutet: "Nicht Bach! Meer sollte er heißen: wegen seines unendlichen, unerschöpflichen Reichtums an Tonkombinationen und Harmonien."
Das alles reflektiert der zweite Raum in Bild, Text und Ton. Auf einer Tafel steht die Frage: "Haben Tonarten einen Charakter?" Schon früh wurde darüber gestritten, für den Bach-Zeitgenossen der Musiktheorie Johann Mattheson war etwa C-Dur "ziemlich rude und frech", h-Moll aber "bizarr, unlustig, melancholisch". Auch die Assoziationen der Töne mit Farben will die Eisenacher Schau erkennbar machen. Isaac Newtons Farb-Ton-Zuordnung in seinem Traktat "Opticks" von 1704 ist im abgebildeten Farbkreis des Bauhaus-Meisters Johannes Itten gegenwärtig.
Die diskografische Rezeptionsgeschichte des "Wohltemperierten Klaviers" kann die Ausstellung nur andeuten
Der ganze zweite Raum stellt nun eine mit Gitterstäben bestückte, symbol-ironische Reminiszenz an Bachs Weimarer Gefängniszelle dar. Hinter den Stäben an Wänden gereiht die Porträts jener Komponisten, die die überragende Bedeutung des "Wohltemperierten Klaviers" implizit bestätigen. Jörg Hansen ist der berechtigten Meinung, nicht die "Matthäuspassion", das "Weihnachtsoratorium" oder die "Goldberg-Variationen" seien die einfluss- und folgenreichste Erfindungen Bachs gewesen, sondern die Präludien und Fugen des "Wohltemperierte Klaviers". Mozart und Beethoven, Chopin, Brahms und Schumann, auch Gounod, ferner Tschaikowsky und Skrjabin, Schostakowitsch und Hindemith, auch die beiden Komponistinnen Fanny Mendelssohn und Clara Schumann - sie alle setzten sich mit dem großen Lehrbuch Bachs auseinander, indem sie daraus spielten und es produktiv vereinnahmten. Von den Abermillionen Musikschülern und Klassikfans in dreihundert Jahren nicht zu reden. An den Stäben baumeln Kopfhörer, darin für die Ohren abrufbar Bachs Musik.
Die diskografische Rezeptionsgeschichte des "Wohltemperierten Klaviers" kann die Ausstellung nur andeuten. Zum Beispiel die Anfänge: In der Vitrine liegt das mit 21 Schellackplatten dick gefüllte Album des Pianisten Edwin Fischer, die erste Einspielung auf dem modernen Flügel aus den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts. Und natürlich ist die erste Cembalo-Gesamtaufnahme der legendären Wanda Landowska anwesend.
Thüringen ist Bach-Land, Leipzig für Bach noch weit entfernt. Wer von Eisenach auf der Landstraße nach Weimar fährt, kommt in den Ort Ohrdruf. Bach, er war als Zehnjähriger Vollwaise geworden, verbrachte hier fünf Jugendjahre bei seinem viel älteren Bruder, dem Organisten Johann Christoph Bach. Die große frühe Lehrzeit. Das glänzend renovierte Schloss dokumentiert in aufgefrischten Ausstellungsräumen die für den jungen Bach prägende Kulturhistorie der Zeit.
Im Weimarer Stadtschloss endlich die Bastille mit der Baustelle gebliebenen Arrestzelle. Von dem Bach-Zeitgenossen Ernst Ludwig Gerber stammt die grandiose Vermutung, nur hier habe Bach seinen Klavierzyklus erfinden können, "an einem Orte, wo ihm Unmuth, lange Weile und Mangel an jeder Art von musikalischen Instrumenten diesen Zeitvertreib abnöthigte". Das historische Faktum: Johann Sebastian Bach, 32 Jahre jung, will 1717 den Dienst in Weimar quittieren und als Hofkapellmeister nach Köthen gehen, von Fürst Leopold sehnlichst erwartet. Der Weimarer Arbeitgeber Herzog Wilhelm Ernst lässt ihn nicht gehen und verpasst ihm einen Monat Haft. Solch eine Gefängniszelle, einmal pro Woche Besuch von der Frau, ist nicht der schlechteste Ort, um das zu entwickeln, was der Musiker Johann Nepomuk David, der Lehrer des Komponisten Helmut Lachenmann, 1962 einer Fuge aus dem "Wohltemperierten Klavier" zugeschrieben hat und damit der schier philosophischen Kunst Bachs überhaupt: "Hier werden alle Möglichkeiten des Denkens über einen Gegenstand geprüft, ausgeschöpft und bis zu einem stillen Jubel emporgetragen. Aber es wird nicht geredet, nur gedacht."