Johann Karl Wezel:Er berührte die Sterne

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Komische Verhältnisse: Johann Karl Wezels aufklärerischer Roman "Herrmann und Ulrike".

Von Willi Winkler

Arno Schmidt musste unweigerlich auf Wezel kommen, dessen "Belphegor" ihm aus dem eigenen Kopfe zu sprechen schien: "W. I. E. H." gab er 1959 seinem Hörbild als Untertitel bei, "wie ich euch hasse". Das Akronym trug schon seine eigene Prosaminiatur "Enthymesis" (1946), für die der Existenzialismus gar nicht erst erfunden zu werden brauchte.

Am Beispiel Johann Karl Wezels entwickelte Arno Schmidt sein Bild von den "Schreckensmännern" der deutschen Literatur: "arm geboren sind sie. Unter unglücklichen Familienverhältnissen aufgewachsen. Brennend scharfen Geistes übervoll", und darum natürlich ein Ärgernis für alle anderen, die Dümmeren, die Mitläufer, die Belletristen und Feuilletonisten. Nieder deshalb mit Goethe, Schiller, Stifter, selbst mit Gottfried Benn, gepriesen werden an ihrer Stelle Ludwig Tieck, Wilhelm Friedrich von Meyern, erst recht Karl May und vor allem Karl Philipp Moritz, der Schmidt seine Wiederentdeckung verdankt. Und Wezel.

Ganz so arm war der aber gar nicht geboren, als Sohn eines beamteten Reisemundschenks kam diese grandiose Dunkelgestalt der deutschen Literatur 1747 an einem der allerdings kleinsten deutschen Höfe zur Welt, in Sondershausen, Gelegenheit immerhin, sein Leben lang mit einem besseren Stand zu kokettieren, Herkunft womöglich illegitim, aber unbedingt duodezisch, ein blödes Treiben, das er in "Herrmann und Ulrike" aus bester Anschauung verhöhnte.

Wenn der Graf sein Schloss verlässt, nimmt er den Staatswagen, "worinne er mit der Langsamkeit einer Leichenbegleitung durch die Alleen eines Lustwäldchens fuhr: die ganze Stadt folgte ihm alsdann zu Fuß auf beiden Seiten und hinten nach." Die Untertanen dürfen Schnupftücher in den Wagen werfen, die nach beendeter Staatsfahrt zusammen mit einer milden Gabe an die Eigentümer zurückerstattet werden, damit sie gewiss sein konnten, wer Herr ist und wer Knecht.

In der Einleitung zu seinem "komischen Roman", wie er "Herrmann und Ulrike" (1780) eingeordnet haben will, bezeichnet Wezel diese Bastardform als jene "Dichtungsart, die am meisten verachtet und am meisten gelesen wird". Sie habe, wenn man sie einerseits der Biografie und auf der anderen dem Lustspiel annähere, das Zeug zur "wahren bürgerlichen Epopee". Das klassische Epos, siehe die Odyssee, bietet zwar ebenfalls den vielumgetriebenen Helden, aber er muss auch heroisch sein, oder, in nachgriechischer Zeit, von Adel; erst im "Werther" darf ein bürgerlicher Held heroisch an der Welt verzweifeln und aus ihr scheiden, als wäre er ein Dänenprinz.

Wie bekannt der heute kaum mehr gelesene Autor seinerzeit war, bestätigte niemand besser als Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der in seiner "Ästhetik" Wezels Definition aufgreift, den Roman gegen die herrschende Lehre zur "modernen bürgerlichen Epopöe" erhebt und ihn auch noch philosophisch rechtfertigt. "Der Roman im modernen Sinne setzt eine bereits zur Prosa gewordene Wirklichkeit voraus."

Wezel begann als Ideenschriftsteller und legte sich, wie es der Jugendwahn befiehlt, gleich mit dem größten Denker an, mit Leibniz, dem er die schöne Idee von der besten aller Welten aufs Sinnfälligste falsifizierte. Arno Schmidt stürzte sich auf den "Belphegor", weil sich damit die katholische Scheinheiligkeit der Adenauer-Jahre kritisieren ließ. So empfindlich war die Zeit noch vor sechzig Jahren, dass selbst sein Freund und Förderer Alfred Andersch eiskalte Füße bekam. "Da Du selbst Dir ja über den Charakter unserer 'Demokratie' keine Illusionen machst, bitte ich Dich um Dein Verständnis", nämlich dafür, dass er und sein Co-Redakteur Helmut Heißenbüttel das Hörbild vorsichtshalber nicht sendeten.

Dem Ruhm dieses pandiabolischen Hasswerks hat das nicht geschadet, und der Abscheu, den bereits Wieland und Musäus äußerten, bestätigte Schmidts Urteil nur, dass es sich hier um einen Mann "merkwürdigsten Angedenkens" handeln müsse. Wezel ist zwar in Sondershausen geboren und dort nach 71 Jahren auch wieder gestorben, doch hat er in der Zeit dazwischen mehr von der Welt gesehen als Goethe und Schiller zusammen, hatte schon mit 16 Homer übersetzt, war in London, Paris und Petersburg gewesen. Unterwegs studierte er bei Gellert, wurde Hofmeister, besuchte das reformerisch aufgelegte Dessauer Philanthropin und geriet zuletzt, als Patient allerdings, an den Homöopathen Samuel Hahnemann.

Als einer der ersten in Deutschland konnte sich Wezel das Schreiben als Beruf leisten, er schrieb für Auflage und Geld, doch hinderte ihn das nicht, das Publikum mit einem "Versuch über die Kenntnis des Menschen" zu traktieren. Wenn er in "Belphegor" (1776) die Welt in Grund und Boden hasst, lässt er sie im nachfolgenden Staats-, Bildungs- und zum Glück auch Liebesroman "Herrmann und Ulrike" nicht bloß gelten, sondern bildet sie mit einer soziologischen Genauigkeit ab, für die sich seine Zeitgenossen zu gut sind. Hegel, sein geneigter Leser, hat deshalb den "Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse" erkannt. Ein Jahrzehnt vor der Französischen Revolution hat Wezel, der einsame Aufklärer, die Prosa der Verhältnisse dem Lachen seines zu Lebzeiten gar nicht kleinen Publikums preisgegeben. Wezel war, noch vor den Pariser Ereignissen, heimlicher Jakobiner.

"Wenn ich gleich kein Graf bin, muß ich denn darum ein schlechter Kerl seyn?" fragt er seinen Lehrer, der Schwinger heißt und ihm "nie die Unterdrückung der Leidenschaften" predigte. Dabei wird die klassische Bildung keineswegs vernachlässigt, nur dass die Heroen der Vergangenheit aus Gips auf den Tisch kommen, Cicero, Cato oder auch Mithridates, und in diesem "Gypssenate Unterhandlungen über Krieg und Frieden gepflogen wurden".

Anders als der schnarchlangweilige Wilhelm Meister gerät Heinrich Hermann wirklich in einen Bildungs-, nämlich einen Fortbildungs- und also Weltverbesserungsroman, an dessen Ende, so viel darf verraten werden, die alte Ordnung gestürzt wird, jedenfalls ein kleines bisschen. Dazu bedarf es eines Schocks: Der unversehens an den Hof geholte Heinrich Herrmann fällt ebenso schnell wieder aus der Gunst der Herrschaft und muss ins Leben hinaus, das weniger feindlich ist als das beim Serenissimus. Das reißt ihn von seiner Liebsten weg, von der Baroness Ulrike, der er nicht angehören soll, die ihn aber bedenkenlos und ein bisschen unbedarft liebt. Obwohl von Stand und deshalb über ihm, ist sie doch nicht frei. "Unser eins ist recht wie im Gefängnis", seufzt sie in einem Brief an den Liebsten. Und schlimmer noch: Das Stift wird ihr ständig angedroht, weil sie von ihrem armen Heinrich Herrmann nicht lassen mag.

Herrmann probiert es wie Wilhelm Meister auf dem Theater, kommt zwar herum in der Welt, aber da ist immer dieses nagende Problem, dass er bei Hofe nicht zugelassen ist, der Gesellschaft nicht zugehörig, bei der man sich geziert anödet, weil man sich nichts zu sagen weiß. Die Gäste, heißt es einmal, "aßen, tranken und hatten Langeweile während dieser Zeit auf die gewöhnliche Art". So viel revolutionäres Gären, so deutliche Kritik am kleinstaatlichen deutschen Wesen war einfach nicht vorgesehen. Im Fiebertraum malt sich Herrmann aus, wie er mit Ulrike, gezogen von sechs schneeweißen Rossen im römischen Triumphwagen, zum Kapitol hochgezogen würde, "Graf, Gräfin und die ganze vornehme Welt, die er kannte, begleiteten sie zu Fuß in den festlichsten Kleidern". Aber schon schwindet die Szene wieder, zu kühn, zu hoch gedacht, und er sieht sich im "herkulanischen Schutt" begraben. (Pompeji und Herculaneum waren eben ausgegraben worden.)

Zweihundert Jahre vor dem legendären Jahrhundert der Sozialdemokratie überlegt Herrmann in seiner jugendlich-idealistischen Naivität, "wie mans dahinbringen könne, daß Niemand mehr in der Welt arm und elend sey". Ach, die Verhältnisse, wie prosaisch sie eben sind, beziehungsweise der Autor in seinem unübertrefflichen Sarkasmus: "Das Projekt blieb abermals stecken und kam auch zeitlebens nicht völlig zum Vorschein."

Der Leser hat über mehr als siebenhundert Seiten mitgefiebert, mitgelitten, sich nicht wenig ergötzt am Sprachenreichtum Wezels, den diese verdienstvolle Ausgabe durch buchstabengetreue Wiedergabe noch hervorhebt. Es geht, wie gesagt, ziemlich gut aus, der regierende Graf, dem nur ein "vorgeblicher Verstand" zugestanden wird, wirtschaftet sein Reichlein planmäßig in den Ruin. Der bürgerliche Herrmann bekommt seine Baroness, sieht seine Feinde fallen und wird, kein Zweifel, als Amtmann ein gerechter und zwar bürgerlicher Herrscher werden.

Die Liebe mit ihren Mühen und Seligkeiten kommt dabei nicht zu kurz: "Er wandelte in den Lüften, und sein Scheitel berührte vor Übermuth die Sterne." Hegel, in einem seltenen Anfall von Humor, der auch noch unmittelbar aus dem bürgerlichen Eheleben geschöpft ist, gab der neuen Gattung schon beim Beginn den Abschied: "Mag einer auch noch so viel sich mit der Welt herumgezankt haben, umhergeschoben worden seyn, zuletzt bekömmt er meistens doch sein Mädchen und irgend eine Stellung, heirathet, und wird ein Philister so gut wie die Anderen auch; die Frau steht der Haushaltung vor, Kinder bleiben nicht aus, das angebetete Weib, das erst die Einzige, ein Engel war, nimmt sich ohngefähr ebenso aus wie alle Anderen, das Amt giebt Arbeit und Verdrüßlichkeiten, die Ehe Hauskreuz, und so ist der ganze Katzenjammer der Uebrigen da."

Bei Wezel selber war es mehr als Katzenjammer. Im verhängten Wagen schaffte man den zum Sonderling herabgestuften Großschriftsteller nach Hamburg zu Hahnemann, dessen Versuch, ihm "zum vollständigen Gebrauche seiner Vernunft zu verhelfen", naturgemäß misslang, wie die Zeitung für die elegante Welt exklusiv meldete. Außerdem trage er "kein Bedenken, sich selbst einen Gott zu nennen". Der Wahnsinn war bei Wezel nicht so literarisch, wie er für Hölderlin oder Lenz gern imaginiert wird. Wezel war Besuchern preisgegeben, die ihn "durch ein Löchlein in der Thür" beobachteten. Einem Zudringling gab er bei glasklarem Verstand mit einem Zweizeiler Bescheid: "Ihre Art, die Leute vernünftig zu machen ist nicht sehr vernünftig. Ich habe herzliches Mitleid mit Ihnen." Und damit Kratzfuß und der Welt die Verachtung gezeigt, die sie verdient.

Die Jubiläumsgirlanden für den zweihundertjährigen Fontane sind ja mindestens gut und schön, aber dabei wurde ein weiterer Feiertag im literarischen Gedenkkalender 2019 versäumt: Im Januar vor zweihundert Jahren starb gott- und geldverlassen Johann Karl Wezel, selbst erhobener Gott, Existenzphilosoph, Genie, Wahnsinniger und Autor des einzigen Rokokoromans der deutschen Literatur. Wer lesen kann, der lese selber.

Johann Karl Wezel: Herrmann und Ulrike. Ein komischer Roman. Mit einem Dossier von Wolfgang Hörner. Die Andere Bibliothek, Berlin 2019. Zwei Bände, 816 Seiten, 68 Euro.

© SZ vom 10.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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