Die moderne Lebensführung kennt keinen grausameren Ort als das Fitnessstudio, aber auch keinen lustigeren. Im Fitnessstudio entscheidet sich die äußerliche Welt, nirgendwo sonst treten Jugend und Alter in dermaßen brutaler Nähe zueinander und Gleichzeitigkeit auf. Wer jung ist, der fliegt mit Leichtigkeit durch seine Power Hour im Beast Mode, an deren Ende die überzüchteten Oberarme nur kurz glühen und dann weiter wachsen. Wer nicht mehr jung ist, dem knackt der Steiß schon in der Umkleide beim Bücken nach den Schnürsenkeln.
Der Jugendforscher und ehemalige Teilzeitjournalist Dr. Johannes Lohmer ist in diesem Sinne eher älter und es wird dennoch ein Vergnügen, ihn ins Fitnessstudio zu begleiten. Das liegt an Lohmers partiellem Alter Ego und abermaligen Chronisten, dem Schriftsteller Joachim Lottmann. Dessen immer noch neuer Roman "Sterben war gestern" trödelt phasenweise zwar ziemlich ziellos vor sich hin und durch die jüngere Gegenwart bis hin zu Corona und dem Terroranschlag in Wien im November 2020. Der Text gewinnt aber auch in der Auseinandersetzung mit dem, was man sein wesentliches Thema nennen muss, nämlich die Jugend. Es geht oft und manchmal indirekt um jene Jugend, die Lohmer verloren hat. Mehr noch geht es um die daraus folgende Fremdheit gegenüber denen, die wiederum ihre Jugend noch nicht verloren haben.
Der nicht mehr junge Johannes Lohmer geht also ins Fitnessstudio, in jenen "Folterkeller für Gehirnlose", und er geht dorthin natürlich nicht freiwillig. Seine Frau - "eine furchtlose, couragierte Person", die Lohmer über ein normalromantisches Maß hinaus liebt - hat ihren Mann dort angemeldet; wobei, das klingt so harmlos, einen scheißteuren Knebelvertrag hat sie unterschrieben, und der Held errechnet sofort die Opportunitätskosten dieser Gemeinheit. Das macht alles nur noch trauriger, denn "mit dem Geld hätte man zweimal in die USA reisen können! Das war unser Traum gewesen".
Demütigung und Hochkomik haben ungeschützten Verkehr miteinander
Nun steht Lohmer aber da, um sich herum in diesem Moment nur Alte und "nirgendwo ein Lachen, eine befreite Stimmung", ja, "es war, als hätte ein furchtbarer Gott die unglücklichen Pennäler von einst direkt aus dem Turnunterricht herausgeholt und mit einem Schlag sechzig Jahre älter gemacht. Da waren sie nun wieder, unglücklich wie damals, aber nun auch noch verflucht alt".
Demütigung und Hochkomik haben in der Folge, wie so manchmal bei Lottmann, schweißtreibend und ungeschützt Verkehr miteinander. Denn Johannes Lohmer ist ein mehrfach gebrochener Mann jener Sorte, die bei Misserfolgen lieber nach Schuldigen sucht als nach irgendwie beheb- und behandelbaren Ursachen. Ein Mann, der sich im Zweifel lieber auf Freigeistertum beruft statt eigene Ansichten zu überprüfen, wenn um ihn herum auf einmal "alle" ihre Meinungen revidieren oder auch nur sachte updaten. Überhaupt, Meinungen - Lohmer sagt, "ich hatte Meinungen immer gehasst, mein ganzes Leben lang, schon in der Grundschule".
Man bekommt es jetzt einerseits mit diesem störrischen und denksteifen Typen zu tun, der eher ein Fall für die Ego- als einer für die Ergotherapie ist. Andererseits, und deswegen liest man Lottmann bei aller Unterwegs-Ratlosigkeit am Ende doch wieder gern, zwingt sich dieser Lohmer wenigstens zum Studium all dessen, was ihm fremd erscheint und auch bleiben wird. Er trifft sich ein paar Mal mit der flüchtigen Instagram-Ikone Lana de Roy, er trifft sich für eine herzustellende Studie über die "Generation Greta" auch mit anderen wirklich jungen Menschen und staunt über sie. Mal staunt Lohmer über ihre Zielstrebigkeit und Lebensgestaltungskraft, mal ist er irritiert vom scheinbar Robotischen im Denken und Fühlen gegenwärtig junger Menschen.
Man muss beim Lesen aufpassen, all dies auch mitzubekommen, weil der fantastische Schreiber Joachim Lottmann seinen Text vor Druck leider nicht gründlich entrümpelt hat. Vermutlich hat er das mit Absicht nicht getan, in einem Gespräch jedenfalls sagte Lottmann einmal, an Literatur ärgere ihn das Künstliche, "man spürt die Absicht" und auch "diese Lüge, dass das alles gar nicht stimmt". Bei ihm hingegen sei es immer so, dass nie etwas hinter einem Satz stehe, "es ist nur der Satz selber". Das echte Leben von Leuten, so Lottmann, passiert nicht als Story im Sinne einer runden, dramaturgisch gespannten Erzählung - warum sollte es in der Literatur dann anders sein?
Der Autor bleibt unterhaltsam auch beim Holzen gegen das, was er für den Zeitgeist hält
Wer das Glück hat, als Künstler angesehen zu werden, dem wird auch manche Nachlässigkeit als Schaffensprinzip ausgelegt. In diesem Fall kommt so allerdings etwas weniger zur Geltung, was der Popliterat-at-large Joachim Lottmann besonders gut kann, nämlich das schamlose, ein bisschen zu laute, ein bisschen mehr auch zu selbstgerechte Abwandern von Frontlinien der Gegenwart. Das gelingt ihm in "Sterben war gestern" einmal mehr, und es gelingt ihm, weil zum Beispiel die Selbstgerechtigkeit Lohmers/Lottmanns am Ende keine ist, die zu sehr nach Rechthaberei röche. Der Autor bleibt unterhaltsam auch beim Holzen gegen das, was er für den Zeitgeist hält. In einer diskursiv zuweilen erbarmungslosen Gegenwart ist das ein Wert an sich.
Stärken und Schwächen des Romans lassen sich überdies recht gut vermessen mit einer kleinen Küchenkomparatistik, einem schnellen Vergleich zwischen Lottmann und einem seiner absoluten Lieblingsautoren, Michel Houellebecq. Beide unterdrücken nicht die schmerzliche Komik, die es unweigerlich mit sich bringt, ein alternder weißer Mann zu sein auch außerhalb des Fitnessstudios, beide stellen diese lieber auch mal in den Dienst von Pointen. Was Lottmann jedoch in der Betrachtung des Größtthemas Jugend anders als Houellebecq leider fehlt, ist das Existenzialistische, die Wucht jener allerschütternden Megadepression, die in der Erkenntnis liegt, dass egal wohin man sieht, nach wie vor und bis in alle Zeit nur Eitelkeit zu sehen ist auf Erden.
Vor diesem Hintergrund wäre für einen wie Lottmann respektive Lohmer mehr möglich gewesen im Showdown zwischen der in seiner Auftragsarbeit zu behandelnden "Generation Greta" und jenen, die er gar nicht weinerlich als Generation Bauchfett beschreibt. Vieles aus diesem Konfliktgebiet aber reißt Lottmann nur an, von Cancel Culture bis zu Lebenssinnfragen.
Mehr möglich gewesen wäre auch deshalb, weil Lottmanns Prosa sich in gewohnter Weise in jenem Bereich zwischen Fakten und Fiktion bewegt, in dem man als Leser besonders leicht und gut Anschluss findet und in dem die neurotische Gegenwart auch leichter zu behandeln ist als zum Beispiel in journalistischen Alltagstexten.
Der Literat Lottmann ist ja selbst ein großer Lügner. Groß nicht im Sinne eines notorischen und stumpfen Lügens. Groß mehr im Sinne eines lustvollen Verklebens von Echtem mit Ausgedachtem. Lottmann interessiert sich für Wahrheit, unterhält aber ein, sagen wir, liberales Verhältnis zu ihr, auch das macht seine Prosa interessant - gerade in einer Zeit, in der manche nicht nur in der realen Welt auf moralische und politische Eindeutigkeiten pochen, die es so gar nicht geben kann.