Eines war schon im Vorfeld klar: Seit den Gründertagen in den Sechzigerjahren hat sich das Jazzfest Berlin selten so offen, so kosmopolitisch und vor allem so experimentell gezeigt wie bei der Eröffnung in diesem Jahr. Nicht zuletzt, weil der neue Festivalleiter Richard Williams Mut und Wille zum Risiko hat.
Erstes Beispiel: Nach vier Tagen intensiver Proben und Aufnahmen voller Diskussionen nahm das 24-köpfige Splitter Orchestra den amerikanischen Komponisten George Lewis als Gastdirigenten auf. Der freute sich. Fünf neue Kompositionen hat Lewis allein in diesem Jahr zur Aufführung gebracht. Mit "Creative Construction SetTM" hatte ein weiteres Großwerk beim Jazzfest Weltpremiere. Für "Creative Construction SetTM" hatte Lewis 32 Anweisungen ausdrucken lassen. Der 63-Jährige unterrichtet als leitender Professor für Komposition an der New Yorker Columbia University. Hier in Berlin verstand er sich nicht als Chef. Bei der Festivaleröffnung im Haus der Berliner Festspiele saß er mitten im Ensemble und rief von seinem Laptop Geräusche, Samples und Klänge ab. Nur selten setzte er noch sein einstiges Hauptinstrument ein, die Posaune.
Das Splitter Orchestra ist das vor fünf Jahren gegründete international besetzte Großensemble der Berliner Echtzeit-Szene. Sie versteht sich als transdisziplinär und besteht aus den versiertesten Improvisatoren der vor 20 Jahren erfundenen Echtzeitmusik. Beginn, Ende, Dauer, Dynamik, Intensität und Qualität eines ihrer Klangereignisse prägen die Struktur und Form ihrer Aufführungen. Alltagsobjekte und Gegenstände wie Topfreiniger und Sprungfedern waren in der improvisierten Musik zwar nicht neu, wurden von den Echtzeit-Künstlern jedoch zu eigenen Ausdrucksmitteln weiterentwickelt, wie das Wedeln mit zwei Karten bei Burkhard Beins oder das Federn der Gabel zwischen den Saiten des Innenklaviers bei Andrea Neumann.
"Sklaverei war dreihundert Jahre Stille, nicht nur vier Minuten 33 Sekunden."
Auch soziale Aspekte spielen eine Rolle: Man kennt sich, besucht gegenseitig die Konzerte. Das lebhafte Ganze ist das erklärte Ziel der nach einer ästhetischen Einheit strebenden Splitter. Jüngste Neuzugänge sind die Pianistin Magda Mayas und die Gitarristin Julia Reidy. Während Beins sich für den Begriff der "interaktiven Kollektivität" starkmacht, spricht der Klarinettist Kai Fagaschinski von den "Schmuddelkindern der Neuen Musik".
Was diese Musiker verbindet, ist die Haltung, dass man sich nicht vorschreiben lassen will, wie Musik zu klingen hat. Und genau dazu passt die originäre Kompositionsästhetik von George Lewis: Die von ihm als Vorschläge gemeinten Karten stehen jedem Mitwirkenden zur Verfügung. Durch Hochhalten einer Karte kann in den Aufführungsprozess eingegriffen werden. Es geht um Dynamik, Lautstärke, Interaktion und Erinnerung. Der Trompeter Axel Dörner merkt an, dass angesichts der Weite des Bühnenraums diese Art der Musikschaffung nichts für Kurzsichtige sei. Und die wohl wichtigste Karte hatte Lewis zunächst gar nicht ausgedruckt, wie er im Gespräch nach der gelungenen Aufführung berichtete: "Come in together as a group."
Als Ausgangspunkt wählten sie in Berlin die Stille. Lewis, der gerade erst auf Einladung von Henry Louis Gates zwei Harvard-Vorlesungen zum Thema "Black Liveness Matters" absolvierte, bezeichnet die Arbeit afroamerikanischer experimenteller Komponisten mit Hinweis auf John Cage als stabilitätsgefährdend: "Sklaverei war dreihundert Jahre Stille, nicht nur vier Minuten 33 Sekunden. Komposition ist aber heute kein kultureller Ausdruck der Unterdrücker, sondern ein transgressiver Akt, weil es uns nicht erlaubt war, zu komponieren."
Mut und Wille des neuen Festivalleiters, Risiken einzugehen, wurden belohnt
Wie das Berliner Jazzfest mit diesem Konzert zugleich zum Signalgeber wird, zeigt der Umstand, dass das Berlin Splitter Orchestra mit Lewis und dessen Komposition am 27. November auch beim Huddersfield Contemporary Music Festival, Englands größtem internationalen Festival für neue und experimentelle Musik, auftreten wird.
Zweites Beispiel: Der Diwan der Kontinente ist ein 22-köpfiges Ensemble, das vor zwei Jahren von der Sängerin Cymin Samawatie und dem Schlagzeuger Ketan Bhatti in Berlin gegründet wurde. Hier treten Solisten unterschiedlichster kultureller Herkunft und musikalischer Tradition miteinander auf, sechzehn davon mit Berliner Wohnsitz. Darunter auch Wu Wei, der große Virtuose der Sheng, einer Mundorgel, die als eines der ältesten chinesischen Musikinstrumente gilt.
Im öffentlichen Künstlergespräch, einer lobenswerten neuen Einrichtung des Berliner Jazzfests, beschreibt Samawatie ihr Anliegen, und was kurz darauf auf der großen Bühne tatsächlich gelingt: Transkulturelle Musik "außerhalb der Komfortzone" mit elektronischen, traditionellen und teils exotisch anmutenden Instrumenten sowie Gesängen auf Arabisch, Farsi, Hebräisch und Türkisch. Von Risikobereitschaft als einer Grundkonstante aktueller Jazzmusik ist wiederholt die Rede - sei es wie hier bei der Öffnung von Fenstern für freie Improvisationen in zeitlich begrenzten Orchesterstücken. Oder beim Preisträgerkonzert mit dem diesjährigen Albert-Mangelsdorff-Preisträger Achim Kaufmann und dem kongenialen Improvisationstrio Grünen. Oder auch beim australischen Trio The Necks, das im 30. Jahr seines Bestehens in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche ein einstündiges meditatives Kollektiv-Konzert mit Chris Abrams an der Schuke-Orgel improvisierte.
Drittes Beispiel: Der Schlagzeuger Louis Moholo-Moholo bestreitet seine Konzerte möglichst ohne Proben und Absprachen. Der einzige Überlebende der südafrikanischen Jazzband Blue Notes wuchs im Langa Township in Kapstadt auf, wo er heute wieder lebt. Es falle ihm auch heute noch sehr schwer, den ganzen Kummer und die Schmerzen in Worte zu fassen, die ihm das Exil bereitet habe, berichtet der 75-Jährige beim Gespräch kurz vor seinem Konzert. Mit der Verschärfung der Apartheid, die auch das Verbot gemischter Musikgruppen zur Folge hatte, wurden die Blue Notes 1964 gezwungen, Südafrika zu verlassen. "Chris McGregor, der damals als Weißer in den Knast musste, weil er aus musikalischen Gründen nur mit Schwarzen zusammenspielte, mit Johnny Dyani, Dudu Pukwana, Mongezi Feza und mir. Meine Brüder starben im Exil an gebrochenem Herzen und verletzter Seele. Nie haben wir einen von ihnen in unserer Band ersetzt." Mit seinem englischen Quartett und dem herausragenden Saxofonisten Jason Yarde spielte Moholo-Moholo nun eine hymnische Hommage an die Blue Notes und eine Musik, die südafrikanischen Township- und europäischen Avantgarde-Jazz auf einzigartige Weise verbindet.
In deren Bann gerieten einst auch der neue künstlerische Festivalleiter Richard Williams und der heute 68-jährige Pianist Keith Tippett, der mit seiner Jazz-Komposition eine weitere Festivalpremiere bestritt. Dass es Williams und seinem jungen ambitionierten Produktionsteam gelang, einige der widersprüchlichsten und fortschrittlichsten Aspekte der aktuellen Szenen beim Jazzfest 2015 aufzufächern, ist als gelungene Neuausrichtung des einst meistbeachteten deutschen Jazzfestivals gar nicht überzubewerten.
Das betrifft die längst überfälligen Präsentationen der Berliner Szenen ebenso wie ein Konzert des jungen Trompeters Ambrose Akinmusire, der erklärt, "Musik aus der Perspektive eines jungen afroamerikanischen Großstädters zu schreiben". Das sei keine Floskel, sagt er, weil in Zeiten wie diesen allein die Existenz eines Afroamerikaners ein politisches Statement sei. Auf der großen Festspielhaus-Bühne zeigt er dann mit dem Pianisten Sam Harris und seiner Komposition "Regret (No more)" in aller virtuosen Kürze das, was auf der Trompete noch sinnvoll erscheint.
Doch Richard Williams' Mut und Wille zum Risiko wurden in diesem Jahr belohnt. Es waren Erlebnisse, die bleiben. Für immer.