Französische Literatur:Es ist kompliziert

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Die große Leidenschaft, aber nur in Andeutungen: Jakuta Alikavozovics erzählt in "Das Fortschreiten der Nacht" eine Liebesgeschichte zwischen Paris und Sarajewo. Sie handelt vor allem vom Verschwinden.

Von Hanna Engelmeier

Um zu verstehen, warum eine Liebesbeziehung gescheitert ist, brauchen die Beteiligten oft viele Jahre. Danach können sie bisweilen in nur wenigen Sätzen erklären, was die heillose Quälerei eigentlich ausgemacht hat. In Jakuta Alikavazovics Roman "Das Fortschreiten der Nacht" braucht die Hauptperson für diese Einsicht 163 Seiten, sie lautet: "Sie ließ es nicht mit sich machen. Sie ließ sich nicht lieben." Sie heißt Amélia, unter ihrem Liebesunwillen leidet Paul. Nachdem er begriffen hat, woran seine Liebe scheitert, geht sein Leben mehr oder weniger glücklich weiter, was wir erfahren, weil sich der Roman noch weitere 91 Seiten lang damit beschäftigt.

Alikavazovic erzählt eine Liebesgeschichte, deren Dramatik vor allem aus dem Verschwinden geliebter Personen entsteht. Paul und Amélia lernen sich in der Pariser Universität kennen, er ist Concierge in einem Hotel, sie lebt als Flüchtling aus dem Jugoslawienkrieg dort und führt ein Bohème-Leben. Schon früh bemerkt Paul Amélias innere Unrast, die sich auch durch das Verhältnis zu ihrer Mutter zu erklären scheint, einer Dichterin, die ein relativ bekanntes Werk "dokumentarischer Poesie" hinterlassen hat. Das klingt vielversprechend: Leider erfährt man über dieses Werk vor allem, dass es bedeutend sei, warum, bleibt dunkel. Auf der Suche nach Spuren ihrer Familie verschwindet Amélia immer wieder aus Pauls Leben, um im belagerten Sarajewo ganz andere Intensitäten als die einer hedonistischen Pariser Szene zu erleben. Sie kehrt jedoch stets zu Paul zurück, meist in einem schwer angegriffenen Zustand, aus dem er sie nur zu gern erlöst.

Eine Liebesgeschichte zu schreiben, die zeigt, wie verschiedene Städte und andere Erinnerungsorte Liebende prägen, und wie diese Erfahrungen sie zusammen und auseinander treiben, ist eine reizvolle Idee. Noch reizvoller ist es, auf diese Weise von den jüngsten Kriegen auf dem Balkan zu erzählen, denen in Deutschland momentan wenig Raum in der Literatur, oder zumindest der Diskussion darüber gegeben wird. Im besten Fall regt Alikavazovics Buch dazu an, darüber nachzudenken. Es beschreibt einen Beziehungsstatus, der zwischen verfeindeten Nationen und Verliebten ein Dauerbrenner bleibt: Es ist kompliziert.

Inzwischen hat Amélia von Bohemienne auf Hilfsarchäologin umgeschult

Paul und Amélia zeugen schließlich eine Tochter, dann verlässt sie ihn endgültig und er verzehrt sich jahrzehntelang nach ihr. In seiner Sorge, ihrer Tochter könne etwas zustoßen oder sie könne sich ebenso von ihm entfernen, wie ihre Mutter es auf der Suche nach der Großmutter getan hat, steigert sich Paul in einen Überwachungswahn hinein. Mittlerweile als Mitarbeiter "einer renommierten Agentur" und Inhaber eines Unternehmens mit unklarem Geschäftsbereich zu Geld gekommen, lässt er seiner Tochter einen Chip implantieren, um ständig sehen zu können, wo sie sich aufhält. Ihr Verlangen danach, die vielbeschwiegene Mutter endlich kennenzulernen, wird irgendwann so groß, dass sie den Chip mit einer Rasierklinge entfernt und sich auf den Weg zur Mutter macht. Sie findet sie in der "zerstörten Stadt". Sehr spät buchstabiert der Roman aus, dass es sich dabei wieder um Sarajewo handelt. Alikavazovic hat eine starke Vorliebe dafür, nur in Andeutungen zu schreiben, wo, wann und aus welcher Motivation heraus sich eine Handlung abspielt. So bleibt auch unklar, wo genau die liebesunwilligen Mutter ansonsten steckt, die in der Zwischenzeit in einem anderen Kriegsgebiet, vielleicht Afghanistan, vielleicht auch nicht, von Bohemienne auf Hilfsarchäologin umgeschult hat. Von dort jedenfalls kehrt sie ein letztes Mal zu Paul zurück, um das große Verschwinden im Anschluss durch ihren Suizid zum Finale zu bringen.

Dieser Suizid wird kurz vor Ende des Buches schon einmal angedeutet, wie auch die verschiedenen anderen gewaltsamen Tode, die das Buch durchziehen, in raunendem Futur angekündigt werden. Wenn es soweit ist, geschehen sie innerhalb eines lapidaren Absatzes, der schon wieder endet, bevor man wirklich begreift, was gerade geschehen ist.

Die Übersetzung von Sabine Mehnert lässt ahnen, dass es Alikavazovic darum geht, eine möglichst verdichtete und suggestive Prosa zu schreiben, deren Rhythmus vor allem durch Aufzählungen und Reihung von Relativsätzen entsteht, die zu immer größeren Zuspitzungen führen sollen: "er bekam einen Eindruck davon, was ein wahrgewordener Traum ist, eine Phantasie, von der er nicht wusste, ob sie seine eigene oder die der Stadt, der Epoche war: Wohlstand, das Gefühl von Besitz und Zugehörigkeit, Sicherheit." Während der deutsche Text dadurch teilweise mühsam zu lesen ist, stellt sich auch der Verdacht ein, dass die Autorin während des Schreibens immer weiter danach sucht, was sie nun eigentlich erzählen will.

So detailreich das Lieben und Leiden der Figuren geschildert wird, so unscharf bleiben ihre Charaktere und Lebenswege, sodass man eigentlich bis zum Schluss nicht weiß, warum sie einander verfallen. Sicher, Amélia erfüllt Pauls Fantasien, indem sie ihm unter anderem "lachend einen bläst" (allein technisch eine schwierige Vorstellung), oder indem sie in eines seiner Hemden gewandet durch eine eigens angemietete, sonnengeflutete Altbauwohnung flaniert. Paul wiederum sieht sehr gut aus, und er ist verrückt nach ihr. Dass es kompliziert wird, hat manchmal einfache Gründe. Zum Beispiel den, dass eine Liebesgeschichte unbedingt ein Roman werden soll.

Jakuta Alikavazovic: Das Fortschreiten der Nacht. Roman. Aus dem Französischen von Sabine Mehnert. Nautilus Verlag, Hamburg 2019. 256 Seiten, 22 Euro.

© SZ vom 25.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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