Jakob Thomä: "Der Kill-Score":Unser Leben ist euer Tod

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"20 EU-Bürger töten im Lauf ihres Lebens eine andere Person durch Luftverschmutzung." Jakob Thomä. (Foto: Anette Hauschild)

Jakob Thomä hat die Frevel des Westens neu berechnet. Nur was genau ist damit gewonnen?

Von Oliver Weber

Beim Lesen dieses Buches hat man das Gefühl, in der Horrorvariante eines Nutzen-Kalküls gelandet zu sein: "20 EU-Bürger töten im Lauf ihres Lebens eine andere Person durch Luftverschmutzung"; "Rechnerisch" tötet jeder Konsument aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen "während seines Lebens 0,1 Personen"; "der moderne Mensch im Westen ist auf dem besten Weg, durch den Klimawandel mehr Menschen umzubringen als die Deutschen durch den Holocaust oder den Zweiten Weltkrieg". Der Nachhaltigkeitsökonom Jakob Thomä hat keine Scheu, solche Sätze aufzuschreiben. Schon deswegen hätte man allen Grund, sein Buch verärgert wegzulegen. Doch die Absurdität seiner Rechnungen macht augenscheinlich, was in Sonntagsreden sonst eine Phrase bleibt: Die Gattung Mensch ist irreversibel zu einer einzigen Zivilisation zusammengewachsen.

"Unser Leben gleicht manchmal einer Pistolenkugel, die mit unserer Geburt aus dem Lauf gejagt wurde." Für den 33-jährigen Thomä, von dem schon diverse Nachhaltigkeitsinitiativen in der Finanzwelt ausgegangen sind, ist das keine wilde Metapher. Bloß indem wir leben, wie wir leben, so die Grundaussage seines Buches, tragen wir in diesem Jahrhundert zum frühzeitigen Tod von mindestens einer halben Milliarde Menschen bei. Auf dieses Ergebnis ist er gekommen, als er nach einem Nachhaltigkeitsindikator suchte, "der nicht 300 000 Datenfelder brauchte oder seitenlange Erläuterungen zu Methoden und Indikatoren oder Bilder von niedlichen Pandas und Bäumen". Er suchte eine Zahl, die einerseits kühl eine andererseits brutale Angelegenheit zum Ausdruck bringen kann. Mit dem "Kill-Score" hat er eine solche gefunden. Dieser stützt sich auf die neuesten Studien und Daten, um ungefähr zu ermessen, wie bestimmte Aspekte der westlichen Lebensweise zu Verkürzungen der allgemeinmenschlichen Lebenszeit beitragen.

Auch wer im Internet kauft, beteiligt sich schon am Krieg aller gegen alle

Zu insgesamt fünf "Tatorten" wird der Leser zu diesem Zweck geführt: "Klimawandel, Abfall und Abgase, Arbeit, anonymer Konsum sowie Krieg und Konflikt". Thomä versteht es, trotz aller abstrakten Kalkulation anschauliche Beispiele des jeweiligen Tathergangs zu geben: Ein kleiner Junge in der japanischen Stadt Toyota, der im Juli 2018 im Klassenzimmer kollabiert und schließlich stirbt, hat sein Schicksal wie 1000 andere Tote einer Hitzewelle zu verdanken, deren Auftreten durch den Klimawandel extrem viel wahrscheinlicher geworden ist. Oder in den Worten des Autors: "Ein Opfer auf dem Altar unserer Konsumgesellschaft." Denn die Menge an CO₂, die ein Deutscher durchschnittlich freisetzt, entspricht etwa einem Menschen, der durch klimabedingte Hitze oder Flut ums Leben kommt.

Aber nicht nur unsere Treibhausgase, unser Plastikverbrauch, unser Elektroschrott, unsere Verursachung von Überstunden und unsere Kriege - "zum blutigen Konflikt in Mexiko kann es nur kommen, weil wir Avocados verzehren" - sind in den Augen Thomäs Tatwaffen im wahrsten Sinne des Wortes. Auch wer im Internet bestellt, statt beim Einzelhändler um die Ecke vorbeizugehen, beteiligt sich am heimlichen Krieg aller gegen alle. Immerhin wird während der nächsten Jahrzehnte "ungefähr jeder 20. Todesfall auf Vereinsamung zurückzuführen sein".

Jakob Thomä: Der Kill-Score - Auf den Spuren unseres ökologischen und sozialen Fußabdrucks. Klett-Cotta, Stuttgart 2022. 304 Seiten, 25 Euro. (Foto: Klett-Cotta)

Obschon der Autor weiß und immer wieder betont, wie schwierig es ist, auf dieser Abstraktionsebene von Verantwortung oder gar Schuld zu sprechen, hat er sich dafür entschieden, sein Buch in Analogie eines Kriminalverfahrens zu ordnen. Es gibt nicht nur die genannten Tatorte, sondern auch eine "Gerichtsverhandlung", in der nacheinander "Anklage" und "Verteidigung" auftreten - und schließlich ein "Urteil". Trotz der Zahlen, die zum Teil erschaudern lassen, hat all das allerdings auch eine unfreiwillige Komik.

Denn eine Variable, die als Nebenfolge unseres Handelns im Aggregat irgendwo und irgendwie statistisch zu einer höheren Sterbewahrscheinlichkeit führt, hat so gut wie nichts mit Mord- und Totschlag zu tun. Im besten Fall handelt es sich um eine schiefe Analogie, die uns an die Externalitäten unseres jetzigen Handelns erinnert, im schlimmsten um die Auswüchse eines Denkens, für das auch Menschenleben nur noch Rechengrößen unter anderen sind. Zum großen Ärgernis lässt das Buch beide Deutungen zu.

So absurd die Verrechnungsweise mitunter ist, legt "Kill-Score" doch offen, was es bedeutet, in einer globalisierten Welt zu leben. Wir tauschen nicht nur Güter im Billionenwert, wir bezahlen dafür auch gemeinsam den Preis gegenseitiger Problembelastung. Anders gesagt: Wer sich hierzulande dafür entscheidet, seinen alten Fernseher ordnungsgemäß zu entsorgen, kann in keinem relevanten Sinne etwas "dafür", dass ein 19-jähriger Junge in Ghana an einer aus der Verbrennung von Elektroschrott resultierenden Krebserkrankung stirbt. Und dennoch haben individuelle Alltagsentscheidungen durch die Verzahnung der Weltzivilisation Fernwirkungen dieser Art.

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