25 Jahre Super-GAU in Tschernobyl (2):Der Chronist der Leere

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Seit acht Jahren reist der Fotograf Rüdiger Lubricht regelmäßig nach Tschernobyl, um dort Bilder zu machen: von einer ausgestorbenen Region und den wenigen Menschen, die dort noch immer leben. Ein Gespräch über das Arbeiten auf verseuchtem Gelände.

Katharina Riehl

Rüdiger Lubricht besuchte zwischen 2003 und 2011 immer wieder die Sperrzone um das Atomkraftwerk Tschernobyl und fotografierte. Es entstanden Bilder von einer verlassenen Gegend, von den wenigen Menschen, die trotz der hohen Strahlenbelastung immer noch dort leben und von jenen Männern, die als Liquidatoren zum Reaktor geschickt wurden, um gegen die Katastrophe anzukämpfen. Seine Ausstellung tourt derzeit durch Deutschland. Den Bildband "Verlorene Orte - Gebrochene Biografien" hat das Internationale Bildungs- und Begegnungswerk (IBB) herausgebracht, mit dem Lubricht für das Projekt zusammenarbeitete.

Was vom Tage übrig blieb: Teddy und Gasmaske im Kindergarten, aufgenommen im Jahr 2003. (Foto: Rüdiger Lubricht)

sueddeutsche.de: Sie reisen nun schon seit acht Jahren immer wieder in die Ukraine und nach Weißrussland. Wie kam es dazu?

Rüdiger Lubricht: Ich kam 2003 in Kontakt mit der niedersächsischen Stiftung "Kinder von Tschernobyl", die humanitäre Hilfe in der Region leistet. Die suchten nach Möglichkeiten, das Thema 2006 - zum 20. Jahrestag - wieder ins Bewusstsein der Menschen zu bringen. Tschernobyl drohte in Vergessenheit zu geraten, auch die Spendenbereitschaft hatte stark abgenommen. Ich bin damals dorthin gefahren, um mir die Situation vor Ort anzusehen, und bin dann jedes Jahr eine Woche dort gewesen und habe fotografiert.

sueddeutsche.de: Bis heute?

Lubricht: Nach den Ausstellungen 2006 dachte ich erst, das Thema sei für mich erledigt. Aber dann kamen immer wieder neue Fragen auf. Also habe ich weitergemacht - auch weil ich von den Kontakten und den logistischen Möglichkeiten der Stiftung natürlich profitiert habe. Dann kam es zu Gesprächen mit dem IBB, wo man für den 25. Jahrestag plante.

sueddeutsche.de: Wie muss man sich die Arbeit in einem verseuchten Gebiet vorstellen?

Lubricht: Man hat immer einen Scout dabei, der über Karten mit den Verstrahlungsgraden in bestimmten Zonen und über Geigerzähler verfügt.

sueddeutsche.de: Bewegt man sich dort in Schutzanzügen?

Lubricht: Nein, das wäre auch nicht klug. Die Leute, die dort wohnen, würden das nicht verstehen - das würde die Arbeit sehr erschweren.

sueddeutsche.de: Worauf muss man achten?

Lubricht: Zum Beispiel sollte man in diesen Gebieten den festen Boden nicht verlassen, denn dort ist es relativ sicher. Sobald man in den Wald oder in die Wiese kommt, wo auch Staub aufgewühlt wird, wird's kritisch. Man muss eigene Nahrung mitnehmen und auch nicht länger als eine Woche am Stück dort bleiben.

sueddeutsche.de: Deshalb war es bei Ihnen auch so ein Langzeitprojekt?

Lubricht: Natürlich. Die Strahlung war zum Teil schon heftig, besonders an manchen Orten in Weißrussland, wo man das auch stark spürte.

sueddeutsche.de: Wie fühlt sich Strahlung an?

Lubricht: Man kriegt irgendwann starke Kopfschmerzen und dann so eine metallisch belegte Zunge. Das sind die Schwermetalle, die in der Luft sind.

25 Jahre Super-GAU in Tschernobyl (3)
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Rüdiger Lubricht

sueddeutsche.de: Wie schnell geht das?

"Ein totes Gebiet": Das Bild zeigt Wohnblocks in Pripjat (Prypjat) mit dem AKW im Hintergrund, aufgenommen im Jahr 2005. (Foto: Rüdiger Lubricht)

Lubricht: Das ist unterschiedlich. Ich hab das so nach ein, zwei Stunden gemerkt und konnte es erst gar nicht glauben.

sueddeutsche.de: Kriegt man es da nicht mit der Angst zu tun?

Lubricht: Nein, man weiß ja, dass man abends dort wieder weggeht - und dann lässt das auch wieder nach. Wichtig ist, dass man immer wieder die Möglichkeit hat, sich vernünftig abzuduschen. Hände säubern, mit dem Gesicht aufpassen. Immer Wasser dabei haben.

sueddeutsche.de: Das klingt aber schon beängstigend.

Lubricht: Klar, manche Leute haben Angst. Ich erinnere mich an Ärzte, mit denen ich unterwegs war, die nicht mit hineingegangen sind in die Zone. Das muss jeder für sich selber wissen. Das hängt natürlich auch mit dem Alter zusammen, damit, ob man die Familienplanung schon hinter sich hat. Man darf junge Leute da eigentlich nicht hineinlassen.

sueddeutsche.de: Heißt das, dass Sie irgendwelche Schäden davongetragen haben müssten?

Lubricht: Ich gehe eigentlich nicht davon aus. Es gibt natürlich immer so Zufälle: Wenn Sie so ein radioaktives Isotop einatmen und das kommt in die Lunge, dann haben Sie Pech gehabt. Das kann man nie ausschließen, aber die Wahrscheinlichkeit ist eher sehr gering.

sueddeutsche.de: In einem Teil Ihres Fotobandes zeigen Sie alte Menschen, die innerhalb der 30-Kilometer-Zone rund um das Kraftwerk leben: dem Gebiet, das eigentlich komplett evakuiert wurde, und das bis heute Sperrzone ist.

Lubricht: Die Menschen, die heute dort leben, sind 1986 alle aus dem Gebiet weggebracht worden - doch sie sind in den neunziger Jahren zurückgekehrt.

sueddeutsche.de: Wie kam es dazu?

Lubricht: Diese Menschen hatten bis dahin ein sehr einfaches Leben mit einer großen Bindung an die Heimat, sie waren alle Selbstversorger mit eigenem Land. Dann wurden sie in eine völlig neue Welt gebracht, in Siedlungen vor den Großstädten. Da gab es keine soziale Struktur und keine materielle Absicherung. Das haben viele seelisch nicht verkraftet, es gab zahlreiche Suizide. In den neunziger Jahren dann sind rund 500 von ihnen bei Nacht und Nebel in die Sperrzone um den Reaktor zurückgekehrt und haben ihre Häuser zurückerobert.

sueddeutsche.de: Wie haben die Behörden darauf reagiert?

Lubricht: Der Staat hat das, wie man so schön sagt: geduldet.

sueddeutsche.de: Wie sieht es heute dort aus?

Verseuchte Heimat: Die alte Frau lebt in dem weißrussischen Dorf Bartolomejewka in der 160 Kilometer vom Unglücksort entfernten, stark kontaminierten Gomel-Zone. Das Bild stammt aus dem Jahr 2004. (Foto: Bilderberg)

Lubricht: Mittlerweile leben dort noch 150 Leute, natürlich abseits von jeglicher Zivilisation, ohne fließend Wasser, ohne Strom. Einmal pro Woche kommt ein fliegender Händler und versorgt sie mit dem Nötigsten, und ein Arzt fährt rum und guckt nach ihnen. Das sind die letzten Menschen, die dort leben werden. Die Jüngeren, die Kinder dieser Leute, sind nicht mehr mitgegangen in die Sperrzone. Diese Alten sterben weg und es kommt auch keiner mehr nach.

sueddeutsche.de: Und wie geht es diesen Menschen?

Lubricht: Sie sind unglaublich bescheiden, und ich denke, man kann sagen, dass sie mit ihrer Situation zufrieden sind. Sie sind zumindest nicht unglücklich - weil die Großstadt sie unglücklicher gemacht hat.

sueddeutsche.de: Und sorgen sie sich um die Strahlung?

Lubricht: Ach was! Das ist kein Thema. Die sind auch in dem Maße gar nicht aufgeklärt. Es gibt kein Radio, keine Zeitung. Sie haben wahrscheinlich mal was davon gehört, aber das wird dann auch verdrängt.

sueddeutsche.de: Aber Sie müssen ja wissen, warum sie einst evakuiert wurden?

Lubricht: Das war ihnen schon bewusst, aber was dahinterstand an Gefahr, das war ihnen in der Form sicher nicht bewusst.

sueddeutsche.de: Man sieht diese Bilder an und denkt sich: Aber vielleicht kann man ja dort tatsächlich leben, die sind ja doch schon ziemlich alt geworden.

Lubricht: Das ist ja auch das Fatale. Da sind Gärten, in denen gibt es überhaupt keine Verstrahlung, und 300 Meter weiter ist alles verseucht. Natürlich vermischt sich das auch - andererseits ist ein alter Körper auch nicht so anfällig wie ein junger, einfach weil es viele Jahre dauern kann bis zum Beispiel ein Tumor wächst. Aber man darf sich auch nicht täuschen lassen: Es sind sehr viele Rückkehrer gestorben.

sueddeutsche.de: Der 25. Jahrestag von Tschernobyl fällt ja nun mit der Katastrophe von Fukushima zusammen. Was geht Ihnen beim Anblick der Bilder durch den Kopf?

Lubricht: Da sind natürlich in vielerlei Hinsicht deutliche Parallelen. Bei der Informationspolitik angefangen, aber auch was die Folgen der ganzen Katastrophe angeht. Ich habe letztens einen Film in den Tagesthemen gesehen, in dem japanische Journalisten in die Sperrzone nach Tschernobyl fahren, um zu Hause zu berichten, wie es in Fukushima weitergehen könnte. Das sagt doch eigentlich alles.

sueddeutsche.de: Also wird das Gebiet um Fukushima-1 eine ebenso ausgestorbene Region sein wie die um das Kraftwerk in Tschernobyl?

Lubricht: Ja, ein totes Gebiet. Und weil die Bevölkerungsdichte viel größer ist, wird es nicht leichter sein, das Problem zu lösen. Die alten Heimkehrer in der Sperrzone zeigen ja, wie schwierig der Verlust der Heimat schon in Tschernobyl war.

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