Italienische Poesie:Fremde Heimat

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Cesare Pavese (1908 - 1959) erzählt in "Der Mond und die Feuer" die Geschichte eines Mannes, der an den Schauplatz seiner Kindheit zurückkehrt. (Foto: Leemage/Imago)

Im Geburtsort des Dichters südlich von Turin spielt der letzte Roman von Cesare Pavese (1908-1950) "Der Mond und die Feuer", der jetzt in neuer Übersetzung vorliegt. Eine Spurensuche im Piemont.

Von Thomas Steinfeld

Der letzte Zug hielt im Juni 2012 im Bahnhof von Santo Stefano Belbo. Mittlerweile haben die Brennnesseln den Bahnsteig erreicht. Die Brombeeren, die ihre langen Triebe über die Gleise recken, stehen einen Meter hoch, bald werden die ersten Bäume zwischen den Bohlen sprießen. Die Klappe des Briefkastens am Bahnhofsgebäude ist mit Klebeband verschlossen, der provisorische Fahrplan für den Autobus hängt in einer Kunststoffhülle für den Bürogebrauch an der Eingangstür.

Santo Stefano Belbo, ein Städtchen von viertausend Einwohnern in den Langhe, der Hügellandschaft südlich von Turin, besaß einen prächtigen, zweistöckigen Bahnhof, mit einem Portal und zwei Säulen, und das ganze Haus ist immer noch frisch in Weiß und Altrosa gestrichen. Die Bahnstrecke von Alessandria nach Cavallermaggiore wird aber vermutlich nie wieder von Zügen befahren werden. Doch ist dieser Bahnhof ein literarischer Ort. Gleich zwei Tafeln bieten dieselben Zeilen dar, um an diese Bedeutung zu erinnern: "Sentivo tra i peschi arrivare il treno . . ." - "Zwischen den Pfirsichbäumen hörte ich den Zug nach oder von Cavelli kommen und das Tal erfüllen . . ."

In Italien ist Pavese nach wie vor präsent, bei uns sind seine Bücher jedoch nahezu verschwunden

Der Satz stammt aus "Der Mond und die Feuer", dem letzten Roman, den der italienische Schriftsteller, Verleger und Übersetzer Cesare Pavese veröffentlichte, bevor er sich im August 1950, erst 42 Jahre alt, das Leben nahm. Er war, obwohl eigentlich in Turin aufgewachsen, in diesem Ort geboren worden, und er hatte die Sommer seiner Kindheit hier verbracht. Immer wieder hatte sich Cesare Pavese in seinen Werken, in Gedichten wie in kurzen Romanen, an die Langhe erinnert, und immer wieder ist diese Erinnerung für eine Sehnsucht nach Heimat gehalten worden: Es gebe doch "nichts Schöneres als einen gut gehackten Weinberg mit gut aufgebundenen Rebstöcken", heißt es in "Der Mond und die Feuer", "ein gut gepflegter Weinberg ist wie ein lebendiger, gesunder Körper, der atmet und schwitzt."

Doch so gewiss es ist, dass solche Sätze aus diesem Buch zitiert werden können, so gewiss ist auch, dass der Erzähler, der sie zu sich selber spricht, sich viele Dinge einzureden versucht. Die meisten von ihnen betreffen den Ort, die Menschen, die Landschaft, die er für seine Heimat halten will. Aber es gelingt ihm nicht. Es geht ihm mit Santo Stefano Belbo und den Langhe so, wie es sich mit dem Bahnhof und der Linie von Alessandria nach Cavallermaggiore verhält: Da müsste etwas sein, doch da kommt nichts mehr. Und das Bewusstsein, hier sei doch nichts, wird nicht weniger schmerzlich dadurch, dass Santo Stefano Belbo in der Fantasie dieses Schriftstellers keineswegs nur eine kleine Stadt in den Langhe ist, sondern auch ein Ort bei Horaz oder in der "Göttlichen Komödie".

Zwischen der Bedeutung, die Cesare Pavese noch immer für ein italienisches Publikum besitzt, und seiner Wahrnehmung im deutschen Sprachraum herrscht mittlerweile ein steiles Gefälle: Früher vor allem bei Claassen und bei Suhrkamp veröffentlicht, ist von seinen Büchern im deutschen Buchhandel kaum mehr übrig geblieben als eine vor mehr als zwanzig Jahren publizierte Taschenbuchausgabe der Erzählungen. Die Gedichte, die Romane und die Tagebücher stehen bestenfalls im Antiquariat.

Doch veröffentlicht der Zürcher Rotpunktverlag nun eine Neuübersetzung des Romans "Der Mond und die Feuer" (die erste Übertragung, unter dem Titel "Junger Mond" erschienen und von Charlotte Birnbaum angefertigt, stammt aus dem Jahr 1954), die ermessen lässt, was da verschwunden ist. Eine Auseinandersetzung mit der Heimat - "il mio paese" - zum Beispiel, so fein, abgründig und schließlich so brutal, dass von diesem seltsamen Ort am Ende wenig mehr bleibt als ein irrendes und seinen Gegenstand notwendig verfehlendes Gefühl: "Genau deshalb ermüdet man und versucht, Wurzeln zu schlagen, sich Land und ein Dorf zuzulegen, damit das eigene Fleisch an Wert gewinnt und einen gewöhnlichen Jahreszeitenzyklus überdauert", heißt es in der neuen, genaueren, sprachlich reicheren und gedanklich weitaus interessanteren Übersetzung von Maja Pflug ( Edition Blau im Rotpunktverlag, Zürich 2016. 216 Seiten , 24 Euro).

Santo Stefano liegt in einem lang gestreckten Tal, und das Wort "Belbo", das dem Ortsnamen meist hinzugefügt wird, bezeichnet den kleinen Fluss, der sich hindurchwindet. In der Mitte der Siedlung befindet sich ein großer Parkplatz, die Gemeindekirche stammt aus dem frühen 20. Jahrhundert, die Reize des Städtchens sind bescheiden. Beherrscht wird die Gegend indessen von den Hügeln - eigentlich sind es kleine, kompakte Berge -, die nahezu vollständig mit Nebbiolo, Dolcetto oder Moscato bepflanzt sind, aus denen Weine entstehen, von denen heute viele Menschen gut leben können. Die Erde ist hier von einem hellen Ocker, so dass sich das Weinlaub, wenn man es von einem gegenüberliegenden Hügel betrachtet, deutlich von den unzähligen Wirtschaftswegen abhebt. Die Landschaft wirkt dann, als wäre sie eine von Längen- und Breitengraden durchzogene Karte ihrer selbst, nur dass es beständig aufwärts oder abwärts geht. Turin ist nah genug, dass die Städter Landhäuser in den Hügeln errichteten, viele davon im Jugendstil. Doch wenn in den Ortschaften selber nichts mehr daran zu erinnern scheint, dass hier bis in 20. Jahrhundert hinein die bitterste Armut herrschte, so tun es die verfallenden kleinen Gehöfte an den Rändern der Weinberge, in denen die Bauern heute manchmal noch ihre Maschinen verwahren.

Der Mann von gut vierzig Jahren, der in "Der Mond und die Feuer" die Geschichte seiner Rückkehr an den Ort seiner Kindheit erzählt, hatte zwei Jahrzehnte in den Vereinigten Staaten verbracht und war dort zu Wohlstand gekommen. Einst hatte er, ein Findelkind, das der staatlichen Unterstützung wegen bei einem Häusler untergekommen war, den Beinamen "l'anguillo", "der Aal", getragen - er war offenbar kaum zu fassen, und so ist er immer noch. Jetzt ist er "l'americano". Die Leute erkennen ihn nicht wieder, sondern bieten ihm, halb im Scherz, halb im Ernst, ihre Gehöfte zum Kauf und ihre Töchter zur Ehe an. Er aber betrachtet die Erde und die Trauben, er vermisst die Haselnussbüsche, er riecht die faulen Äpfel und den Rosmarin. Doch was er sich erhofft, nämlich sagen zu können: "Auf diesem Balken werde ich alt. In diesem Zimmer werde ich sterben", stellt sich nicht ein.

Einen Hausstand hat er nie erworben, so muss seine Pfeife an den Schriftsteller erinnern

Im Gegenteil, er nimmt die scheinbar heimische Umgebung wahr, als wäre er ein Kranker, der ein paar Wochen relativer Gesundheit erlebt, aber allen Grund hat, nicht auf seine Genesung zu hoffen. Einzig der Schreiner Nuto, der Freund der Kindheit, ist bei ihm, fremd und vertraut zugleich. Und in seiner Begleitung offenbart sich allmählich die Gewalt, wie sie Tal und Hügel beherrscht, die neue und die alte. In Maike Albaths schlankem Buch über den "Geist von Turin" (2010) lässt sich nachlesen, in welchem Maße das Unterlaufen aller Überzeugungen damals Literaturpolitik gewesen sein muss.

Die kleine Stadt Santo Stefano Belbo brachte einen großen Schriftsteller hervor. Seinetwegen erweiterte sie die Bibliothek, am Rand des Zentrums in einer der wenigen altertümlich wirkenden Straßen gelegen, um ein Studienzentrum, in dem einige spärliche Memorabilia sowie Erstausgaben und Übersetzungen der Werke Paveses ausgestellt sind. Einen Hausstand hatte er nie erworben, deswegen muss die Pfeife an ihn erinnern. An der Straße, die zu den Hügeln nach Valdivilla hinaufführt, steht Cesare Paveses Geburtshaus. Dort befindet sich das große Bett aus Eiche, in dem er geboren wurde. Aber es ist nur ein Bett. Die Gedenkstätte muss das Gebäude mit einer Arbeiterfamilie teilen.

Das Haus, in dem der Schreiner Nuto - oder besser: sein Vorbild - lebte, ist ebenso vorhanden wie der Hof, auf dem Anguillo als Knecht arbeitete, oder das Haus am großen Platz, das einst das "Albergo dell'Angelo" war, in dem der "Amerikaner" residierte. So funktioniert die Erinnerung unter den Bedingungen des kulturellen Tourismus. Aber sie hat es schwer mit einem Schriftsteller, dem das kalte, blasse Licht des Mondes heimleuchtet - und der beim Anblick eines Johannisfeuers schon an die verbrannte Fläche denkt, die es für Jahre zurücklassen wird.

Pavese war nie in Amerika, doch entdeckte er die USA für sich in Musik und Literatur

Cesare Pavese hatte in Turin englische Literatur studiert und seine Abschlussarbeit über den Lyriker Walt Whitman geschrieben. Er hatte Herman Melville, John Dos Passos, William Faulkner und Gertrude Stein übersetzt. Doch war er nie in den USA gewesen. Er fand Amerika in den Langhe, in Gestalt des Findelkinds zum Beispiel, das ein Gesandter all jener Heimatlosen und Verlorenen ist, die er in den Vereinigten Staaten zu Hause wähnt: "Das Schöne an Amerika ist . . ., dass dort eigentlich keiner weiß, wo er zu Hause ist." Er fand Amerika in der Musik, der eigentlichen Leidenschaft Nutos. Dieser gibt zwar die Klarinette auf, als er sesshaft wird und eine Schreinerei einrichtet, in der er Fässer herstellt. Und Cesare Pavese sagt nicht, wie die Musik klingt. Aber sie dürfte dem Blues und dem Jazz mindestens so nahe sein wie der italienischen Volksmusik.

Vor allem jedoch findet sich Amerika in der Sprache, vermittelt durch Walt Whitman und dessen Vorstellungen von einer erzählenden Lyrik - in einer ebenso sorgfältigen wie unauffälligen Sprache, die sich ihren Gegenständen von innen zu nähern scheint und jeden Menschen, jedes Ding in einem gleichsam symbiotischen Verhältnis lebendig werden lässt: "I sing the body electric", hatte Whitman gedichtet, "ich singe den Körper elektrisch".

Es gibt ein Kapitel in "Der Mond und die Feuer", in dem der Erzähler von seiner Zeit in den Vereinigten Staaten berichtet. Eine Zeit lang habe er in einer Wirtschaft an einer Landstraße gearbeitet, sagt er, als er einem Landsmann aus den Langhe begegnet sei, einem Lastwagenfahrer. Gemeinsam hätten sie den Wein vermisst. ",Nichts gibt es hier', sagte ich zu ihm, ,es ist wie auf dem Mond'." Selbstverständlich ist der Wein, der Erde entsprungen und ein flüchtiger Genuss, auch eine Metapher. Aber das muss man nicht wissen.

© SZ vom 14.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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