Italien:Universalismus und Provinz

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Je marginalisierter, desto produktiver: Die Kritikerin Maike Albath hat eine mit Leben überbordende Geschichte der Literatur Siziliens geschrieben.

Von Thomas Steinfeld

Maike Albath: Trauer und Licht. Lampedusa, Sciascia, Camilleri und die Literatur Siziliens. Berenberg Verlag, Berlin 2019. 352 Seiten, 25 Euro. (Foto: N/A)

Als der sizilianische Lyriker Lucio Piccolo, Baron von Calanovella, und Giuseppe Tomasi di Lampedusa, sein Cousin, im Juli 1954 nach San Pellegrino Terme kamen, boten sie ein unerwartetes Bild. Zwei ältere Herren, altmodisch in Schwarz gekleidet, fuhren in einer schweren Limousine aus Vorkriegszeiten vor, begleitet von einem Diener in Livree. Die bekanntesten Schriftsteller der jungen Republik hatten sich in diesem Kurort in der Nähe von Bergamo versammelt, darunter Italo Calvino, Eugenio Montale und Giorgio Bassani, um die Erneuerung der italienischen Dichtkunst mit einer Konferenz einzuleiten.

Hinein aber in die zu einer Begegnung der Generationen erklärten Veranstaltung spazierten die beiden Edelmänner aus einer anderen, vergangenen Welt: Der mächtige Eugenio Montale hatte einige Gedichte Lucio Piccolos für außerordentliche Arbeiten eines jungen Debütanten gehalten, was ihrem Erfolg dann aber keinen Abbruch tat. Giuseppe Tomasi di Lampedusa hingegen, damals 57 Jahre alt, beantwortete die Frage eines Teilnehmers, was er denn für ein Dichter sei, mit dem Wort "Fürst".

Zu dieser Zeit schrieb er schon an "Il Gattopardo", dem Roman, der zu einem der berühmtesten Bücher der italienischen Literatur werden sollte. Der Fürst erlebte den Erfolg, auf den er zuletzt mit großer Intensität hingearbeitet hatte, indessen nicht mehr. Er starb im Juli 1957, was bitter ist, zugleich aber zu einer Gestalt passt, die in jeder Beziehung so aristokratisch gewesen sein muss, dass sie im Beifall keinen Maßstab für sich selbst hätte erkennen können.

Von der sizilianischen Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg handelt "Trauer und Licht", das Buch der Berliner Literaturkritikerin Maike Albath. Zugleich ist das Buch mehr als eine Vorstellung der großen Bücher und der berühmten Autoren. Maike Albath macht sich auf die Suche nach noch lebenden Verwandten und Bekannten und trinkt mit ihnen Kaffee. Sie streift durch die Nachbarschaft, rekonstruiert die Geschichte der Werke und besorgt sich Nachrichten zu den gesellschaftlichen und kulturellen Zusammenhängen. Sie besucht die Schauplätze und macht eine Rundreise durch Sizilien.

Eine Insel zwischen zwei Kulturkreisen, dem abendländischen und dem arabischen

Sie spekuliert über den sizilianischen Mann, das Mandelgebäck und die besitzergreifende Mutter. Maike Albath benutzt die Bücher, um etwas über eine Insel zu erfahren, die einst in der Mitte zweier Kulturkreise lag, dem abendländischen und dem arabischen, die von Völkerschaft nach Völkerschaft besetzt und besiedelt wurde - und die sich nun längst in einer exzentrischen Lage befindet, in mehrfacher Hinsicht: abgeschnitten von den alten Handelswegen wie vom "Kontinent", dem Mutterland auf der anderen Seite der Straße von Messina, ökonomisch von geringer Bedeutung, manchmal beinahe afrikanisch, aber dann doch immer wieder von einer geradezu hellsichtigen Modernität. Tiefe Provinz und entschlossener Universalismus, nicht zuletzt in Fragen der Bildung, scheinen dort unmittelbar ineinander zu bestehen. Von Luigi Pirandello und Leonardo Sciascia handelt dieses Buch, von Andrea Camilleri und Stefano D'Arrigo, und nebenher geht es um den Ballarò, das Marktviertel von Palermo, oder um die Mafia.

Die ganze erste Hälfte des Buches ist jedoch Giuseppe Tomasi di Lampedusa und dem "Leoparden" gewidmet, einschließlich der Verfilmung des Romans durch Luchino Visconti. Das hat seinen Grund, lässt sich an dieser Geschichte doch nicht nur die Geschichte Siziliens entfalten, unter besonderer Berücksichtigung des landbesitzenden Adels und seines ständischen Starrsinns. Vielmehr wird an diesem Werk, den Autor und seine Familie inbegriffen, auch etwas Italienisches und vielleicht besonders in Sizilien Spürbares erkennbar: das Maß nämlich, in dem die gebildeten Eliten in möglicherweise halb fiktiven, aber funktionierenden Netzwerken leben, die nicht nur Palermo mit London oder Riga verbinden, sondern die auch den Stadtteil Kalsa (wo der Palazzo liegt, in dem Giuseppe Tomasi di Lampedusa zuletzt lebte), wie er heute besteht, halb als Elendsviertel, halb als Touristenattraktion, mit einer Vergangenheit verknüpfen, die zurückreicht bis in sarazenische oder normannische Zeiten.

Diese Netze, gesponnen auf einer seit Urzeiten kultivierten Insel an der europäischen Peripherie, mögen ein Grund für die außerordentliche künstlerische und vor allem literarische Produktivität der Insel sein, wie sie Maike Albath demonstriert - wobei die Produktivität zu wachsen scheint, je mehr Sizilien nun im Abseits der Geschichte zu versinken droht. Der eher nordeuropäische Staatsidealismus des Commissario Montalban, des Helden in den Kriminalromanen Andrea Camilleris, erscheint dabei als die herausragende Eigenschaft der bislang letzten Mittlerfigur in einer langen Kette von eigenwilligen Gestalten, die stets beides zugleich waren: Inkarnation der Provinz und Stellvertreter einer universalen Ordnung.

Alles müsse sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist, ließ Lampedusa seinen Helden Tancredi sagen

Keiner der großen sizilianischen Autoren war hauptberuflich Poet: Andrea Camilleri hatte als Professor für Regie an einer römischen Akademiegearbeitet bevor er sich als Pensionär ganz und gar der Literatur zuwandte, Leonardo Sciascia war Lehrer gewesen wie auch Vitaliano Brancati (sowie Sciascias Freund Pier Paolo Pasolini). Und Giuseppe Tomasi di Lampedusa war der unabhängige, vom Verkauf seiner Ländereien lebende Müßiggänger, der einer seiner Figuren, dem Opportunisten Tancredi, den berühmten Satz in den Mund legen konnte, es müsse sich alles ändern, wenn sich alles gleich bleiben solle. Sie alle sind eng an ihren jeweiligen Ort auf der Insel gebunden, und zugleich bewegen sie sich frei durch die Weltgeschichte, im praktischen wie im übertragenen Sinn.

Maike Albath beobachtet die Abneigung der Sizilianer gegen das Frühstück, sie betrachtet den schwarzen Elefanten auf der Piazza del Duomo in Catania, eine fast skurrile Skulptur, deren Herkunft sich in der Geschichte verliert, und sie denkt über das Gemälde "La Vucciria" (1974) des realistischen und zeitweise kommunistischen Malers Renato Guttuso nach.

Es zeigt einen Markt in Palermo, komplett mit aufgeschnittenen Schwertfischen und halbiertem Ochsen: "Das Gemälde hat etwas Ursizilianisches, weil bei all der Fülle und trunkenen Sinnlichkeit der Tod allgegenwärtig ist", nicht nur in Gestalt der zum Verzehr angebotenen Tiere, sondern auch in den dunklen und geschlossenen Gesichtern des Personals. Als fremd erscheinen diese Figuren. Das aber liegt nicht nur an ihnen. Es spiegelt sich in ihnen auch das Wissen des Betrachters um seine eigene Fremdheit, was, wie dieses Buch zeigt, die Voraussetzung für alle Vertrautheit sein mag.

© SZ vom 12.08.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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