Interview:Mit dem fremden Blick

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Hat sich den Traum vom eigenen Theater erfüllt: 1981 gründete der Italiener Roberto Ciulli das Theater an der Ruhr in Mülheim. (Foto: dpa)

Der Regisseur und Intendant Roberto Ciulli erhält den "Faust" für sein Lebenswerk. Ein Gespräch über das Theater als Kunst- und Lebensform - und als Mittel gegen Bluthochdruck.

Von Martin Krumbholz

Aus Roberto Ciullis Büro blickt man in den herbstlichen Raffelbergpark. Das Theater an der Ruhr liegt in einem stillgelegten Solebad am Rand von Mülheim. Ciulli hat es 1981 selbst gegründet, gemeinsam mit seinen künstlerischen Weggefährten Gralf-Edzard Habben und Helmut Schäfer. Sein Theater hat durch die vielen Gastspiele in aller Welt einen internationalen Ruf. Der Italiener Ciulli, geboren 1934 in Mailand, kam 1964 nach Deutschland und verdingte sich als Lkw-Fahrer, Requisiteur und Beleuchter, bevor er zu inszenieren begann. Von 1972 bis 1979 war er Schauspieldirektor in Köln, danach Gastregisseur in Düsseldorf. Das Theater an der Ruhr hat er nicht nur mit seinen Inszenierungen und seiner Schauspielerfamilie geprägt, sondern auch mit seinem Charme. 2011 zog er sich aus der Leitung zurück, mischt aber noch als Regisseur und Schauspieler mit. An diesem Samstag erhält Ciulli in Kassel den Theaterpreis "Faust" für sein Lebenswerk. Anlass für ein Gespräch bei Espresso und Plätzchen.

SZ: Sie erhalten mit 85 Jahren den "Faust" für Ihr Lebenswerk. Gratulation.

Roberto Ciulli: Der Preis ist eine Überraschung - und eine generöse Entscheidung. Ausgerechnet der Roberto Ciulli, der vor fast 40 Jahren den Bühnenverein verlassen hat, um seinen Traum von einem eigenen Theater zu realisieren, erhält diese Auszeichnung. Das ist ein Zeichen der Souveränität. Schade, dass ich den Preis nicht vor 40 Jahren bekommen habe, als Kredit. Das hätte uns viele Schwierigkeiten erspart. Wir erkennen immer erst a posteriori.

Sie haben Philosophie studiert und über Hegel promoviert. Was hat Hegel eigentlich vom Theater gehalten?

Das weiß ich nicht, aber ich zitiere ihn: "Bildung ist das Vermögen, durch den Blick eines anderen auf die Welt zu schauen." Der fremde Blick - das ist mein Credo. Ich erinnere mich an eine Prüfung an der Universität in Mailand. Ich sollte eine Seite aus der "Phänomenologie des Geistes" interpretieren, und der Professor war nicht zufrieden. Er sagte: Stell dir vor, du bist in Sizilien, du triffst einen Bauern mit Früchten und Wasser, du hast Durst, und dieser Bauer ist Analphabet. Jetzt stell dir vor, ich bin dieser Bauer, erkläre mir nun die Seite von Hegel. Da habe ich gepasst. Was war die Lektion? Ich konnte dem Bauern die Seite nicht erklären, weil Hegels Gedanke noch nicht mein eigener war. Ich muss erst selbst zum Autor werden, um Hegels Gedanken an einen anderen weitergeben zu können.

Ich vermute, auch der Schauspieler muss zum Autor werden.

Im Begriff Schauspieler steckt eigentlich schon eine Beleidigung. Es müsste "attore" heißen, der Handelnde, oder Akteur. Aber ja, das ist es, was der Akteur tut: Er benutzt einen Text, als wäre er dessen Autor. "Interpretation" wäre zu wenig.

Sie sind mit 30 nach Deutschland gegangen. Warum ausgerechnet Göttingen?

Das war Zufall. Ich hatte mich in Paris in ein Mädchen verliebt, eine deutsche Studentin, die auf der Straße Zeitungen verkaufte. Ich bin ein Kind der Großbourgeoisie, ich hatte nie eigenes Geld verdienen müssen. Und jetzt war ich plötzlich ebenfalls Zeitungsverkäufer, es war eine entscheidende Erfahrung, Geld zu verdienen.

Klingt nach Nouvelle Vague, "Außer Atem", Sie in der Rolle von Jean Seberg.

Ja, das war die Zeit. Ich hatte mit 29 einen Herzinfarkt erlitten und daraus gefolgert, dass ich im falschen Milieu lebte. Ich beschloss, ein neues Leben anzufangen und Proletarier zu werden. So bin ich mit ihr nach Göttingen gegangen, habe bei Bosch und als Lkw-Fahrer gejobbt. Dann bin ich am Deutschen Theater Beleuchter und Requisiteur geworden.

Der Intendant war Heinz Hilpert, ein berühmter Mann.

Es war sein letztes Jahr, 1965/66. Alte Leute können gefährlich werden, wenn sie keine Zukunft haben. Das ist die klassische Situation eines Terroristen. Hilpert lud mich fast jeden Sonntag, Punkt zwölf Uhr, zu einem privaten Sektempfang zu sich nach Hause ein. Er sprach Französisch, und er wollte mit mir - dem Requisiteur! - über die Proben diskutieren. Bevor er starb, sagte er zu seinem Nachfolger Fleckenstein: Günther, du hast Glück, du hast einen künftigen Regisseur im Haus, Roberto Ciulli.

Was durften Sie denn so inszenieren, als "italienischer Gastarbeiter"?

Man wurde natürlich in ein Klischee gepresst. Italien hieß: Spaghetti, Pizza, Mafia. Und Goldoni. Außerdem galt man als Italiener damals noch als Verräter, vom Krieg her. Dabei habe ich sogar den ultradeutschen Barlach inszeniert, ich bin vermutlich der einzige Italiener, der je den "Armen Vetter" inszeniert hat. Übrigens gibt es die schlimmsten Shakespeare-Inszenierungen in England, die schlimmsten Pirandello-Inszenierungen in Italien. Meine erste Inszenierung an einem deutschen Theater war "Bernarda Albas Haus" von Lorca.

In den Siebzigerjahren waren Sie Schauspieldirektor in Köln. Anfangs galten Sie noch als Abonnentenschreck.

Die christliche Theatergemeinde hatte mich auf den Index gesetzt. Am Ende aber hätte ich sogar Intendant werden sollen. Allerdings hat sich gleichzeitig Jürgen Flimm beworben. Doch ich wusste zu dem Zeitpunkt schon, dass ich ein eigenes Theater gründen wollte. In Göttingen hatte ich Gralf-Edzard Habben getroffen, meinen Bühnenbildner, in Köln Helmut Schäfer, meinen Dramaturgen. Von da an habe ich mich intensiv mit deutschsprachiger Literatur beschäftigt, Büchner, Wedekind, Horváth, Sternheim, Brecht, Weiss, Handke.

Zwischendurch gab es in Düsseldorf noch die Skandalinszenierung "Dekameron" nach Boccaccio.

Der katholische Dekan fand es blasphemisch, weil es in einer Kirche spielte, aber ich bin in katholischen Internaten groß geworden, ich weiß, was blasphemisch ist und was nicht. Nach einem Monat gab es 200 Kündigungen, da wurde das Stück abgesetzt. Günther Beelitz, der Intendant, wollte mich trotzdem überreden zu bleiben: "Du hast doch hier ein Theater im Theater!" Aber das war nicht mein Plan.

Warum musste es ein eigenes Haus sein?

Ich brauche eine Struktur, in der die künstlerische Arbeit im Zentrum steht, nicht der Apparat. Im Stadttheater gibt es zehn unterschiedliche Tarife, also haben wir den Bühnenverein verlassen. Bei uns hat jeder den gleichen Vertrag. Am Stadttheater weiß der Mann in der Werkstatt nicht, wofür der Tisch, den er baut, gebraucht wird. Und die Kassiererin im Theater kann nicht die gleiche sein wie die im Supermarkt. Warum? Sie muss wissen, dass der Zuschauer nicht nur mit 20 Euro für eine Karte bezahlt, sondern auch mit zwei, drei Stunden Lebenszeit. Nicht zuletzt aber ging es darum, eine bestimmte Ästhetik durchzusetzen, nennen wir es den Blick der Moderne. Natürlich ist der Text wichtig, aber auch die Stille ist eine Sprache.

Ihr Theater ist anspielungsreich. Bei "Leonce und Lena" buddelt der Prinz in einem Sandhaufen und gräbt einen toten Soldaten aus. Da verbinden Sie Büchner mit Beckett und Heiner Müller.

Das war die Idee. Warum sollen Büchner oder Shakespeare nicht die Chance erhalten, Beckett kennenzulernen?

Wichtig sind Ihnen auch die Clowns. Was ist an einer roten Nase so aufregend?

Die rote Nase steht für eine Verletzung. Das ist eine Metapher auch für den Ursprung der Kunst. Der Clown fängt an, Widerstand zu leisten. Die Dialektik weißer/roter Clown gibt es in jedem von uns. Der weiße Clown kann der böse Kapitalist sein, aber auch der Künstler, der Schöpfer. Der rote Clown der Loser, vielleicht auch der Zerstörer. Aber jeder von uns verfügt über beides. In der Literatur: Faust und Mephisto.

Sie haben auch Verluste erlitten. Früh schon den Tod der großartigen jugoslawischen Akteurin Gordana Kosanović, die Ihre Lebensgefährtin war.

Mein erster Verlust war der meines Vaters, der ist nicht gestorben, hat aber meine Mutter verlassen, und ich habe ihn nie mehr gesehen. Als ich vier war, tauchte mein Stiefvater auf, der einen großen Einfluss auf mich hatte, auch als Intellektueller. Er hat sich später das Leben genommen. Auch mein Doktorvater hat sich umgebracht. Gordana Kosanović hat das Theater an der Ruhr entscheidend mitgeprägt bis 1986, als sie mit 33 Jahren viel zu früh starb. Ihre letzte Rolle war die Lulu, sie konnte nur noch die Premiere spielen. Der Schmerz, die Trauer, die Wut, die ihr Tod hinterließ, haben die folgenden Inszenierungen geprägt, "Dantons Tod", "Tote ohne Begräbnis", "Der kroatische Faust", "Kaspar".

Es hat in der letzten Zeit viele Veränderungsimpulse am Theater gegeben: Abflachung von Hierarchien, normalere Arbeitsbedingungen usw. Kann jemand, der wie Sie buchstäblich im Theater lebt, mit einem modischen Begriff wie "Work-Life-Balance" etwas anfangen?

Nein. Für mich ist das Theater das Zentrum des Lebens. Die höchste Lebensqualität findet im Spiel statt. Denn wenn ich spiele, habe ich das schärfste Bewusstsein dessen, was ich tue. Vielleicht kann man so weit gehen, zu sagen: Ich habe immer gespielt. Schauspielen heißt: handeln. Auch in der Gesellschaft gibt es überall Zeremonien, Regeln, Rollen. Gesellschaft und Theater sind parallel strukturiert. Dafür haben wir zu wenig Bewusstsein.

Ihr nächstes Projekt heißt "Boat Memory", ein Projekt über Flüchtlinge.

Das ist ein Sujet, das man nicht erzählen kann. Auch nicht mit den Mitteln des Dokumentartheaters. Es ist auch moralisch falsch, denn der Mensch stumpft ab. Wenn ich höre, dass ein Fünfzehnjähriger aus Mali sein Schulzeugnis in seine Jacke einnäht, weil er glaubt, damit in Europa seinen Wert als Mensch bezeugen zu können, und man ihn ertrinken lässt - dann ist das zutiefst erschütternd. Wir wagen eine andere, eine etwas ungewöhnliche Annäherung an das Thema, mit Lyrik aus Afrika.

Gibt es so etwas wie ein ästhetisches Erbe? Denken Sie an die Zeit nach Ihnen?

Ich bin seit 2011 nicht mehr in der Geschäftsführung. Damit habe ich abgeschlossen. Das Theater an der Ruhr hat freiwillig einen kulturpolitischen Auftrag an der Peripherie übernommen, denn ein großes Problem ist das Gefälle zwischen Zentrum und Provinz, nicht nur in Italien oder Frankreich, sondern auch hier. Heute gastiert das Deutsche Theater Berlin in Siegen, als wir anfingen, war das anders. Natürlich hätten wir gerne im Gegenzug kontinuierlich in Hamburg, Berlin oder München gastiert. So bleibt es leider dabei, dass in diesen Städten zwar jeder das Theater an der Ruhr kennt, aber kaum jemand unsere Inszenierungen gesehen hat. Das ist also mein Erbe. Doch der eigentliche Künstler ist ja ohnehin der Akteur. Also dränge ich jetzt zur Bühne, ich spiele häufiger mit.

Sie spielen sogar den jungen Oswald in Ibsens "Gespenstern".

Das war die Idee der Regisseurin Simone Thoma. Jede Vorstellung ist ein Sprung, ich spiele die Figur längst nicht mehr so wie in der Premiere. Ich beichte Ihnen was. Seit Jahren nehme ich Tabletten gegen Bluthochdruck. Wenn ich auf der Bühne stehe, dann brauche ich keine Tabletten. Das Theater ist auch meine Medizin.

© SZ vom 08.11.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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