Interview:Bewegende Protokolle

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Zu Gast im NS-Dokumentationszentrum: Der Sozialpädagoge Reiner Engelmann hat die Geschichten von zehn Überlebenden des Holocausts in einem Buch vereint

Interview von Yvonne Poppek

Hass spielt keine Rolle. Soll keine Rolle spielen. Sondern Vergebung, Versöhnung - und Verantwortung. Der Autor und Sozialpädagoge Reiner Engelmann hat zehn Zeitzeugen, die den Holocaust überlebt haben, getroffen und ihre Geschichten protokolliert. Das Buch "Wir haben das KZ überlebt" ist bei cbj erschienen. Im NS-Dokumentationszentrum spricht er am Mittwoch, 30. September, mit Josef Königsberg.

SZ: Sie haben zehn Zeitzeugen für Ihr Buch getroffen, unter anderem Josef Königsberg. Was hat Sie an dieser Begegnung besonders beeindruckt?

Reiner Engelmann: Als ich Josef Königsberg das erste Mal traf, hat er das Gespräch begonnen, indem er sagte: Schauen Sie einmal raus in den Garten, dort sehen Sie eine Feuerstelle. Einmal im Monat röste ich mir dort Kartoffeln. Das ist meine Erinnerung an die Häftlingszeit. Und dann hat er mir seine Kartoffelgeschichte erzählt - und die wird er auch im NS-Dokumentationszentrum erzählen. Auch von der Trennung von seiner Familie, die in Auschwitz umgekommen ist. Er selbst kam in verschiedene Arbeitslager. Es ist eine sehr, sehr bewegende Geschichte.

Sie haben die Zeitzeugen erzählen lassen. Was war Ihnen wichtig?

Wichtig war mir aufzuzeigen, was sie alles in den verschiedenen Konzentrationslagern durchlebt haben. Aber ich wollte auch ein wenig aus ihrem Leben erzählen, bevor sie in die Konzentrationslager gekommen sind, und zum Teil auch von dem Leben danach. Ich habe ihnen nicht viele Fragen gestellt. Irgendwann haben sie ihre Geschichte von vorne bis hinten erzählt. Ich wollte, dass sie zu Wort kommen. Welche Parallele im Leben dieser Menschen hat Sie am meisten beschäftigt?

Am Mittwoch spricht er mit Reiner Engelmann über sein Schicksal. (Foto: Isabelle Grubert)

Zum einen der Lebensmut und Optimismus, der von allen ausgegangen ist. Zum anderen ein jahrelanges, manchmal jahrzehntelanges Schweigen über das, was sie erlebt haben, weil sie ihre Ehepartner, ihre Familien nicht belasten wollten, obwohl gerade die Partner Bescheid wussten. Aber sie haben Rücksicht genommen, wollten dieses schwere Thema aus der Familie heraushalten. Auffallend war auch, dass alle gesagt haben, sie hätten Freunde gebraucht, Menschen, auf die sie sich verlassen konnten. Das war nicht leicht, aber es war für diese Zeitzeugen wichtig, damit sie durchhalten konnten.

Sie haben bereits ein Buch über den "Fotografen von Auschwitz" Wilhelm Brasse geschrieben, ebenfalls also über einen Holocaust-Überlebenden. Was treibt Sie an?

In der Schule habe ich gemerkt: Die Auseinandersetzung im Geschichtsunterricht reicht nicht aus. Ich wollte nicht Zahlen, Daten, Fakten und irgendwelche Verträge, sondern Menschen, die in dieser Zeit gelebt und den Holocaust überlebt haben, in den Mittelpunkt stellen. Das ist etwas, das Schüler besser annehmen können, weil sie ein viel besseres Gespür für das Leben und das Leiden dieser Menschen bekommen.

Sie schließen Ihr Buch mit dem Zitat von Max Mannheimer: "Ihr seid nicht verantwortlich für das, was geschah. Aber dass es nicht wieder geschieht, dafür schon!" Sind sich Jugendliche dieser Verantwortung bewusst?

Nur zum Teil. Das hängt damit zusammen, dass Schüler, die die Zeit des Nationalsozialismus im Unterricht behandeln, am Ende viel über diese Zeit wissen. Aber was damals in ihren Heimatorten passiert ist, wie diese Zeit für die Menschen war, die nicht mit den Machthabern konform waren, oder die einfach anders waren, darüber wissen sie kaum etwas. Ob Nachbarn deportiert worden sind, ob sie flüchten mussten. Ich versuche, da anzusetzen. Und ich versuche, einen Zusammenhang herzustellen zu dem, wo sie heute Verantwortung übernehmen und hinschauen müssen.

Als Kind lebte Josef Königsberg im schlesischen Kattowitz, das Bild zeigt ihn 1929. (Foto: Josef Königsberg)

Ist Ihr Buch der Versuch, eine Lücke im Geschichtsunterricht zu schließen?

Das ist eine Idee. Und: Wir müssen uns darauf einstellen, dass es diese Zeitzeugen nicht mehr lange geben wird. Wilhelm Brasse habe ich das erste Mal im August 2011 getroffen. Wir verabredeten ein weiteres Treffen ein Jahr später. Da war es zu spät. Wilhelm Brasse war verstorben.

Ihre Protokolle sind jeweils um die 20 Seiten lang - eine kurze Form. Ist das der jungen Leserschaft geschuldet?

Anscheinend ist das nicht nur für die jungen Leser gut. Ich habe von vielen erwachsenen Lesern die Rückmeldung bekommen, dass sie nach ein, zwei Kapiteln das Buch zuschlagen mussten und warten mussten, um sich dem nächsten Kapitel zuwenden zu können. Sie haben Zeit gebraucht, um die Inhalte zu verarbeiten.

Glauben Sie denn, dass Schüler über das Unterrichtsmaterial hinaus Bücher zum Thema NS-Zeit in die Hand nehmen?

Bei dem Buch über Wilhelm Brasse habe ich es konkret erlebt. Da habe ich ganz viele Rückmeldungen bekommen, die dahingingen: Endlich ein Buch, das wir nicht in der Schule lesen müssen. Aber eines, das einem die Geschichte viel näher bringt. Das war für mich ein Zeichen: Da gibt es ein Interesse an dem Thema.

Blickt man auf heute, so sieht man einerseits wieder brennende Flüchtlingsheime und andererseits die offene Aufnahme der Flüchtlinge in Deutschland. Wie blicken Sie in die Zukunft?

Eigentlich recht zuversichtlich. Gerade das, was ich in den letzten Tagen und Wochen über die Medien zu den Flüchtlingen vernommen habe, zeigt mir, dass wir doch eine recht offene Gesellschaft sind.

Zeitzeugenabend: KZ-Überlebende im Gespräch, Josef Königsberg und Ernst Grube sprechen mit Reiner Engelmann, NS-Dokumentationszentrum, Mittwoch, 30. September, 19 Uhr, 23 36 70 00

© SZ vom 29.09.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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