Intellektuellengeschichte:Kluger Bürokrat

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Der junge deutsche Historiker Danilo Scholz erforscht in Paris den Nachlass des Hegel-Kenners Alexandre Kojève, der in der Frühgeschichte der Europäischen Union eine Schlüsselrolle spielte. In der Volksbühne Berlin stellte Scholz erste Ergebnisse vor.

Von Gustav Seibt

Halb Europa wütet derzeit gegen die Brüsseler Bürokraten, die mit nur abgeleiteter demokratischer Legitimation im Stil des aufgeklärten Absolutismus tief in die Lebenswelt einschneidende "Reformen" durchsetzen, unbekümmert um lokale Traditionen und Identitäten. Sicher, das ist ein Zerrbild, hinter dem sich oft genug nationale Regierungen verstecken, die wirtschaftliche Zwänge gern auf dem Umweg über die EU durchsetzen. Und doch ist der "militante Bürokrat", der politische Großplaner, eine reale Figur des 20. Jahrhunderts, und nicht nur in dessen totalitärer Sphäre.

Eine solche Gestalt war der russisch-französische Philosoph Alexandre Kojève (1902 - 1968), der als Schüler von Karl Jaspers und Exeget Hegels vor dem Zweiten Weltkrieg eine ganze Generation Pariser Intellektueller prägte, es nach dem Krieg aber vorzog, als Spitzenbeamter in französischen Ministerien und bei der OECD die europäische Nachkriegsordnung mitzugestalten. Intellektuelle hätten "Erfolge", so eins seiner Bonmots, Administratoren dagegen "Ergebnisse". Dabei hörte er nicht auf, mit Intellektuellen wie Carl Schmitt oder Leo Strauss zu korrespondieren (den Berliner Studenten um Rudi Dutschke empfahl er 1967 kühl, Griechisch zu lernen) und sich in den Verhandlungspausen zu Welthandelsabkommen mit Hegels "Enzyklopädie" zu beschäftigen.

Doch das kämpferische "Spiel" mit jener "Elite", die nach 1945 daranging, wieder eine belastbare Weltwirtschaft zu errichten, bereitete ihm auch intellektuell höheres Vergnügen. All das ist weitgehend unerforscht, und so blieb Kojève vor allem als Stichwortgeber für das "Ende der Geschichte" in einer liberalisierten Weltgesellschaft nach 1989 im Gedächtnis, oder zuletzt als Ideengeber für ein "Lateinisches Reich" mit staatlicher Wirtschaftslenkung gegen die deutsch-neoliberale Austeritätspolitik in der Euro-Krise.

Inzwischen arbeitet der junge Historiker Danilo Scholz in Paris an Kojèves Nachlass. In diesem Frühjahr publizierter er daraus ein Schriftstück von 1950, den Entwurf für eine Europäische Investitionsbank, die Westeuropa als einheitlichen Wirtschaftsraum mit gemeinsamer Währung konzipierte ( in: Euro Trash , Merve Verlag, Berlin 2016). Nun berichtete Scholz im "Roten Salon" der Berliner Volksbühne erstmals umfassend aus seinen Forschungen zu Kojève, und dabei wurden die Umrisse einer intellektuell-politischen Biografie erkennbar, die etwas Atemberaubendes hat.

Kojève las Carl Schmitts "Begriff des Politischen" sehr genau

So arbeitete Kojève im Krieg zwar mit dem französischen Widerstand zusammen, brach aber nie die Verbindungen zur Vichy-Regierung ab, die er, wie der junge François Mitterrand, auch als Modernisierungschance für Frankreich sah. Vor allem durch seinen Schüler Robert Marjolin gelang es ihm nach 1945, zu einem führenden Wirtschaftsberater der französischen Nachkriegsregierungen zu werden. Kojève lieferte die Tischvorlagen für de Gaulles Ablehnung des britischen EU-Beitritts. Schon damals wollte der Hegelianer eine Keynesianisches Kontinentaleuropa von einem Hayekschen, neoliberalen Commonwealth getrennt halten, wohl im Sinn einer globalen Arbeitsteilung. Der heutige neoliberale Grundriss der EU war also, wenn Scholz recht hat, keineswegs zwingend.

Andererseits scheint Kojève in seinen letzten Jahren bereits erkannt zu haben, dass Europa mit der Schließung seiner Märkte für die Agrarprodukte Afrikas vor seinen Grenzen ein Elendsproblem aufkommen ließ, das uns heute durch Massenmigration auf die Füße fällt. Vielleicht muss also, wer "Fluchtursachen bekämpfen" will, schon bald wieder auf großplanerische Konzepte im Stile Kojèves zurückgreifen. Die Brillanz der Ausführungen von Danilo Scholz bestand darin, dass er seine archivarischen Funde unentwegt mit ideengeschichtlichen Hintergründen versah. Der "militante Bürokrat" (bis zu seinem Lebensende stand er in Kontakt mit dem KGB) blieb ein Hegelianer, der das Ende der Geschichte in einem Weltstaat avisierte, in dem Hegels "Anerkennung" als universaler Rechtsstaat realisiert würde.

Das wäre das Ende des Politischen im Sinne Carl Schmitts gewesen. Scholz entdeckte Lektürenspuren in einer frühen Zeitschriftenausgabe von Schmitts "Begriff des Politischen", und zwar an genau der Stelle, die auf die Unvereinbarkeit von Weltstaat und Politik hinweist. Bien sûre! Auch für Demokratie gibt es in einer solchen elitären Planungsutopie eigentlich keine Stelle, die über das Legitimatorische hinausgeht. An der heutigen EU hätte Kojève wohl kaum ihr Demokratiedefizit beklagt, sondern ihre planerischen Misserfolge. Eine Währung ohne politischen Unterbau einzuführen - dieser Irrtum wäre ihm schwerlich unterlaufen.

© SZ vom 15.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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