Im Kino: "Rachels Hochzeit":Irgendwie Opfer

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Als wäre man dabei gewesen: Anne Hathaway in Jonathan Demmes bewegendem Familiendrama "Rachels Hochzeit".

S. Vahabzadeh

Bei Familien gehört es dazu, dass man über Fehler hinwegsieht, Taktlosigkeiten verzeiht und vergibt, wo man lieber gehen würde. Man hat sie sich nicht ausgesucht, aber sie sind eben Teil des Lebens. Genauso verhält es sich mit den Charakteren in Jonathan Demmes neuem Film "Rachels Hochzeit" - und das, obwohl sie äußerlich einer westlichen Idealvorstellung entsprechen: wohlhabende bescheidene intellektuelle Öko-Liberale mit einer Schwäche für Ethno-Musik. Der künftige Schwiegersohn ist schwarz? Was für ein unbemerkenswertes Detail ... Doch im Kern erzählt dieser Film davon, wie wenig es manchmal nützt, alles richtig zu machen; davon, dass kein Familienverband so ehern ist, dass er alle Probleme überstehen und alle Verletzungen heilen kann. Manchmal muss man einfach gehen.

Anne Hathaway als Kym in "Rachels Hochzeit". (Foto: Foto: ddp)

Rachel heiratet, und alles dreht sich um Kym. Kym ist eine zwiespältige Figur, ein Mädchen, das man abwechselnd streicheln und schlagen will. Es ist Demmes Verdienst, dass er der Märchenprinzessin Anne Hathaway, sonst unermüdlich niedlich im Komödienfach unterwegs, diese Rolle zugetraut hat. Kym wird für ein paar Tage die Reha-Klinik verlassen, in der sie die letzten Monate verbracht hat, Drogenentzug, und auf die Hochzeit ihrer älteren Schwester Rachel fahren. Es wird das erste Zusammentreffen mit der Familie seit langer Zeit sein, und als sie zu Hause ankommt, wirken die anderen erst mal freudig, fast entspannt. Der Vater und die Stiefmutter sind sehr herzliche Menschen, in jeder Situation integrative Gesprächspartner, Moderatoren. Rachel freut sich. Ihre Freundin lässt eine spitze Bemerkung ab - es dauert in Familien nicht lang, bis die ersten Misstöne die Harmonie stören.

Man ahnt bald, dass Kyms Probleme irgendwo hier verwurzelt sind, ohne dass jemand schuld wäre. Es ist Kym, die eine Schuld verspürt, die ihr der Vater nicht zuweist - für den Tod des kleinen Bruders, der ertrunken ist, als Kym einen Unfall mit ihm hatte, im Rausch. Man kann die Genervtheit, die hier spürbar wird, auch gut verstehen: Kym wirkt sehr fragil, man fühlt mit ihr in ihrer permanenten Verletztheit, ihrer manchmal übertriebenen Verletzlichkeit. Aber vor allem ist sie aggressiv und fürchterlich egozentrisch - unfähig und unwillig, ihrer Schwester für diese Hochzeit eine Pause davon zu gönnen, dass sie, Kym, das Problemkind, immer im Zentrum aller Aufmerksamkeit und Sorge steht.

Sie ist zynisch, nimmt den Mund zu voll, wie ein kleines Kind, das sich alle Mühe gibt, nicht artig zu sein. Es gibt Momente, da ist es richtig qualvoll, ihr zuzusehen - wenn sie auf dem Polterabend das Wort ergreift, und statt ihrer Schwester Glück zu wünschen eine One-Victim-Show daraus macht ... "Rachels Hochzeit" ergreift für keinen Partei und führt keinen vor, es kommt mehr und mehr durch, dass Kym tatsächlich irgendwie ein Opfer ist. Die letzte Nachfahrin einer Opferdynastie, beherrscht von gestörten Beziehungen. Sie leidet unter ihrer Mutter - Demme hat Debra Winger, die nur noch ganz selten im Kino auftritt, für diese Rolle gewonnen: eine egozentrische Frau, freundlich und unnahbar.

Demme, der durch und durch liberal ist, hat auch während der großen Erfolge von "Phildadelphia" und "Schweigen der Lämmer" immer wieder dokumentarisch geabeitet: Und er hat sich offensichtlich nicht nachsagen lassen wollen, er sei während der Ära Bush in die Fiktion geflüchtet und habe dort überwintert. Sein letzter Spielfilm "Manchurian Candidate", vor fünf Jahren entstanden, handelte von dieser Ära; seither hat er zwei Dokumentationen gedreht, die in der Retrospektive finden, was er in der amerikanischen Gegenwart vermisst hat - "Neil Young: Heart of Gold" und "Jimmy Carter, Man from Plains". Aus dieser Dokumentarfilmphase hat er eine neue Herangehensweise mitgebracht; "Rachel" ist kein mit großem epischen Bogen erzeugtes Riesengemälde, sondern eine kleine Nahaufnahme, ein paar Tage im Leben einer Familie.

Ästhetik eines selbstgemachten Familienfestvideos

Die Methode, mit der Demme in dieses Familiendrama eintaucht, ist zugegebenermaßen nicht neu - es ist die, mit der Thomas Vinterberg "Das Fest" gedreht hat, den einzigen Dogma-Film, bei dem die Mittel tatsächlich ganz und gar zur erzählten Geschichte passten - die Handkamera, die Unschärfe der Bilder, Massenszenen mit natürlich agierenden Laien, die sich Demme für "Rache" ausgeliehen hat, gibt dem Ganzen die Ästhetik eines selbstgemachten Familienfestvideos; man hat das Gefühl, das kennt man. Im Fall von "Rachels Hochzeit" kommt noch eine Choreographie der Begegnungen dazu und ein perfekt organisiertes Durcheinander der Dialoge, das man nur als altmanesk bezeichnen kann. Demme hat im Abspann Robert Altman, vor zwei Jahren verstorben, gedankt - "Rachel" selbst ist eine Hommage an ihn, seinen Film "The Wedding" (1978), seine Art, Ensemblefilme zu drehen. Kym steht ein wenig mehr im Zentrum von "Rachels Hochzeit" als die anderen; aber im Prinzip beansprucht jeder in dieser Familie seinen Raum, trägt tatsächlich bei zu jeder Szene, in der er dabei ist.

So gut ist die Hilf- und Ausweglosigkeit in diesem Film beschrieben, dass sich der amerikanische Filmkritiker Roger Ebert fragte, ob in der Familie Lumet (Sidney Lumets Tochter Jenny hat das Drehbuch geschrieben) irgendwelche fürchterlichen Dinge passiert sind, von denen man nichts weiß. Was Jonathan Demme angeht - in dessen Familie gab es einen Neffen, den Filmemacher Ted, der unter anderem "Blow" gedreht hat und 2002 an den Folgen seiner Kokainsucht gestorben ist; vielleicht hat das mit der Eindringlichkeit dieser Erzählung zu tun. Eine persönliche Leidenschaft hat Demme auf jeden Fall eingebaut in diese Geschichte - seine Liebe zur Musik. Wenn bei der Hochzeit aufgespielt wird, dann dauert das eigentlich viel zu lang; aber so ist es ja bei jeder Hochzeit im richtigen Leben.

RACHEL GETTING MARRIED, USA 2008 - Regie: Jonathan Demme. Buch: Jenny Lumet. Kamera: Declan Quinn. Schnitt: Tim Squyres. Mit: Anne Hathaway, Rosemarie DeWitt, Bill Irwin, Tunde Adebimpe, Mather Zickel, Debra Winger. Sony, 114 Minuten.

© SZ vom 01.04.2009/irup - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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