Man würde gerne einmal einen Tag im Kopf des Illustrators und Karikaturisten Christoph Niemann verbringen. Das ist ganz buchstäblich gemeint. Man sähe die Welt dann einen Tag lang mit diesem scharfen, aber doch ungemein freundlichen Blick, und der Tag würde beispielsweise mit dem Moment beginnen, den Niemann für das Titelbild eines Sammelbandes des American Institute of Graphic Arts festgehalten hat. In der innigen Euphorie, mit der sich Zahnbürste und Zahnpasta da finden, steckt eine enorme philosophische Fallhöhe, in der die sonst so finster christlichen Motive von Bestimmung, Verschmelzung und Erlösung eine angenehm weltliche innere Ruhe bekommen.
Solchen Hintersinn findet man in den meisten seiner Bilder. Und gerade weil das natürlich alles gar nicht so komplex durchdacht, sondern ganz einfach gezeichnet ist, verinnerlicht man diesen Blick auf die Welt im Sekundenbruchteil der ersten Betrachtung. So etwas kann man nicht lernen. Sicher, Niemanns Technik als Illustrator ist souverän. Aber es sind gerade die Skizzen und Zeichnungen, die ohne die Technik auskommen, mit denen er zeigt, wie sein Blick funktioniert. Die Laubschnitte beispielsweise. Mit wenigen Schnitten bringt Niemann getrocknetes Laub so in Form, dass auch der ungeübte Betrachter sofort sieht, dass dieses Blatt natürlich so aussieht wie das Milleniumfalken-Raumschiff aus "Star Wars" und jene Blätter wie Ernie und Bert aus der "Sesamstraße".
Niemann schafft Bilder, die man nach der ersten Betrachtung nicht mehr "entsehen" kann
Oder seine Sonntagsskizzen, die man früher in der New York Times und heute auf seinem Konto beim sozialen Bildernetzwerk Instagram ( https://instagram.com/abstractsunday/) verfolgen kann. Das sind Bilder, die man nicht mehr "entsehen" kann. Der iPhone-Kopfhörer als Magrittes Pfeife? Die Gabel als Giraffe? Die Klorolle als Panzerkanone? Wenn er das erst einmal gezeichnet hat, wirkt das so verblüffend wie selbstverständlich.
Im Wiener Museum für angewandte Kunst hat man Christoph Niemann jetzt seine erste Museumsausstellung eingerichtet. Nun kann man seinen Karriereweg als eine dieser "Deutscher schafft es in New York und deswegen überall"-Geschichten erzählen. 1970 im schwäbischen Waiblingen geboren, Studium in Stuttgart, 1997 Umzug nach New York. Dort dann Titelbilder für die Wochenzeitschrift New Yorker, gezeichnete Kolumnen für die New York Times, 2008 Umzug nach Berlin. 2012 hat er eine Briefmarke für die Deutsche Bundespost entworfen. Ein Jahr später schenkt Bundespräsident Joachim Gauck dem amerikanischen Präsidenten Barack Obama beim Staatsbesuch Niemanns Bild von zwei Händen, die beim Hexenspiel aus dem Faden die Brooklyn Bridge ziehen.
Die Geschichte vom Erfolg in der Fremde greift aber zu kurz, weil Christoph Niemann eben nicht durch Amerika geprägt wurde - er war schon immer Christoph Niemann. Für den in der deutschen Karikaturtradition kein Platz war, weil es dort immer noch als politischer Kommentar gilt, ein Tier, Fahrzeug oder Haus zu zeichnen, auf das man das Kürzel einer Institution schreibt, und in der Schwarze vom Flüchtling bis zu Obama immer noch dicke Lippen haben, Asiaten hohle Wangen und Juden große Nasen. Das wurzelt tief in den Feindseligkeiten des 19. Jahrhunderts, auch wenn Karikaturisten immer sehr erschrocken sind, wenn man sie darauf anspricht. Selbst die Flucht davor in Helge-Schneider-hafte Unsinnigkeiten, die man nur versteht, wenn man mit ihnen aufgewachsen ist, sind Welten entfernt. Niemann ist vielmehr ein globales Phänomen.
Zum einen, weil er universale Geschichten erzählen kann. Zum anderen, weil er für die Geisteshaltung des Downtown steht, jenen kosmopolitischen Geist der amerikanischen Ostküste, der aus einer Zeit stammt, als die 23. Straße in Manhattan noch die Demarkationslinie zwischen dem sozialliberalen Down- und dem marktliberalen Uptown war. Er ist ja durchaus ein politischer Geist. Trotz seines Sinns für das Selbstverständliche, seiner Blätter über Kinderalltage oder Transatlantikflüge, seiner New Yorker-Titel, auf denen er beispielsweise den Blick aus dem verregneten Taxifenster oder in das Dämmergleißen eines Sonnenschirmes zum Meisterwerk der Illustration veredelt.
Und so findet man in der Ausstellung zwischen den Google Doodles zum Sommer- und Winteranfang, seiner Animation über das Trauma der brasilianischen Fußballfans und der Fotogeschichte, die er mit Plätzchenteig erzählt, eben auch eine Animation, die den Militarismus als solchen auseinandernimmt oder den New Yorker-Titel, in dem das blaue (demokratische) und das rote (republikanische) Amerika wie Furien aufeinander losgehen.
Sucht man historische Linien, ist man bei Erich Kästner auf der richtigen Spur. Und bei Sempé
Die Wiener Ausstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, ist keine Retrospektive. Dafür ist Niemann zu jung und produktiv. Sie ist eine Bestätigung seiner Bedeutung. Der Besuch der Ausstellung ist nicht einmal zwingend. Wer sich einen Überblick über seine Arbeit verschaffen will, kann das auch am Computer tun. Man kann ihm auf besagtem Instagram-Konto folgen, auf Facebook, Twitter und Pinterest. Man kann sein Portfolio durchklicken ( www.christophniemann.com) oder seine New York Times-Kolumnen ( http://niemann.blogs.nytimes.com). Für Kinder gibt es die Streichelzoo-App und Bilderbücher, für die Erwachsenen den Sammelband "Abstract City" (auf Deutsch bei Knesebeck) oder die illustrierten Epigramme von Erich Kästner ("Es gibt nichts Gutes, außer: Man tut es: Kurz und bündig" bei Atrium).
Sucht man dann nach historischen Linien, ist man bei Erich Kästner auf der richtigen Spur. Oder bei Jean-Jacques Sempé, der auch für den New Yorker zeichnet. Und man wird diesen freundlichen Blick auf die Welt weiter suchen, der nichts beschönigt und doch im kleinen Moment die Größe erkennt. Den haben nicht viele, obwohl man ihn doch allen gönnt.
Christoph Niemann: Unterm Strich . Bis zum 11. 10. 2015 im MAK, Wien. Info: www.mak.at