Ian McEwan wird 70:Täuschende Meisterschaft

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Ian McEwan wurde am 21. Juni 1948 in Aldershot geboren. Für seinen Roman "Amsterdam" erhielt er 1998 den Booker Prize. (Foto: Horst Galuschka/imago)

Der Schriftsteller Ian McEwan verwischt die Grenzen zwischen Geschehenem und Erfundenem so virtuos, dass er selbst manchmal an Bücher glaubt, die er nie geschrieben hat. An diesem Donnerstag wird er 70.

Von Alexander Menden

Als 1997 Ian McEwans Roman "Liebeswahn" erschien, war die Kritik nahezu einhellig begeistert. Der Kritiker der New York Times beschwerte sich allerdings, der Autor habe sich "zu eng an die Fakten gehalten, und seiner Vorstellungskraft nicht gestattet, etwas zu erfinden". Tatsächlich beruhte "Liebeswahn" laut McEwan auf einer wahren Geschichte: Beim Versuch, einen Jungen zu retten, der an einem Heißluftballon hängt, begegnet der Sachbuchautor Joe einem Mann, Jed, der ihn fortan in der wahnhaften Annahme verfolgt, ihn verbinde seit dem Vorfall eine tiefe emotionale Beziehung mit Joe. Im Anhang zitierte McEwan einen Artikel aus dem British Review of Psychiatry, verfasst von Robert Wenn und Antonio Camia, die darin den Fall schilderten, der dem Buch zugrunde lag. Der Psychiater Ronan McIvor rezensierte "Liebeswahn" kurz darauf im Fachmagazin Pychiatric Bulletin, und sprach bewundernd von der kongenialen Verarbeitung einer "publizierten Fallstudie".

Im Spiel mit sprachlichen Sonderregistern bringt er es zu täuschender Meisterschaft

Es dauerte fast zwei Jahre, bis McEwan eingestand, dass er die Fallstudie samt Fußnoten und Fachjargon frei erfunden hatte. Der British Review of Psychiatry existiert nicht, die Nachnamen Wenn und Camia sind Anagramm von "Ian McEwan". Der Autor war alles andere als zerknirscht. Man solle nicht zu klar trennen zwischen der Fiktion und psychiatrischen Studien, die "wie kleine Romane" seien, sagte er damals: "Eine psychiatrische Theorie auf etwas zu gründen, das eine Person angeblich über eine andere Person herausgefunden hat, ist unglaublich unwissenschaftlich und hat viel mit einer gewissen Art literarischer Interpolation zu tun. Warum also nicht konsequent sein und die Figuren eines Romans einer psychiatrischen Studie unterziehen?"

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Das Spiel mit sprachlichen Sonderregistern, in denen er es zu täuschender Meisterschaft bringt, ist ebenso typisch für den Sohn eines schottischen Armeeoffiziers, wie der Bau von Handlungsverläufen, die dermaßen intrikat und seltsam sind, dass man stets zu glauben geneigt ist, es handle sich um tatsächliche Begebenheiten oder gar Bruchstücke der Biografie des Autors. In "Saturday" verbindet er die makellos glaubhafte Darstellung der Wochenendroutinen einer Londoner Upper-Middle-Class-Familie mit dem narrativen Dreh, einen Überfall auf besagte Familie dadurch auszulösen, dass der Protagonist, ein Arzt, eine spekulative, demütigende Diagnose an einem Kriminellen vornimmt. Schon in "Zementgarten" von 1982, in dem Tod und Inzest eingebettet sind in eine überzeugend geschilderte Geschwisterbeziehung, konnte man den Eindruck gewinnen, hier spreche jemand aus eigener Erfahrung. Und die Entdeckung eines obszönen Briefs, den in "Abbitte" (2001) der Sohn einer Hausangestellten der Tochter einer Upper-Class-Familie versehentlich zukommen lässt, hat derart fatale Folgen, dass die Anmutung beim Lesen ständig zwischen dem einer brillant erzählten Seifenoper und dem einer womöglich in historischen Fakten wurzelnden Tragödie schwankt.

McEwan, der seine Kindheit unter anderem auf Militärstützpunkten in Singapur, Libyen und Deutschland verbrachte, nimmt unter den britischen Gegenwartsautoren eine Sonderstellung ein: Sein Oeuvre sitzt genau auf der Grenze zwischen jener "Literary Fiction" die als preiswürdig eingestuft wird, - er gewann unter anderem 1998 den Booker-Preis für "Amsterdam" - und jener süffig lesbaren Ware, für die Zeitgenossen wie Robert Harris oder Nick Hornby stehen. Im besten Fall, wie im jetzt verfilmten "Am Strand" (2007), verbindet sich der Sog einer perfekt gebauten Geschichte mit einer psychologischen Genauigkeit und Wahrhaftigkeit, zu der nur wahre Meister fähig sind.

Sein Spiel mit Fiktion und Meta-Fiktion hat McEwan wohl in "Honig" (2013) getrieben, der Geschichte einer jungen Cambridge-Absolventin, die in den frühen Siebzigerjahren vom britischen Geheimdienst rekrutiert wird. Sie soll linke Intellektuellenkreise infiltrieren, um mögliche kommunistische Bedrohungen besser bekämpfen zu können. Die Figur des Thomas Haley ist, wie McEwan selbst freimütig eingestanden hat, dem Autor selbst ähnlich: Er ist Schriftsteller, hat an den nicht sehr traditionsreichen Universitäten Sussex und East Anglia studiert, seine Werke ähneln frühen Büchern McEwans, und er gewinnt, wie McEwan, früh einen bedeutenden Literaturpreis. McEwan hat das Buch "gedämpfte oder verwandelte Memoiren meiner selbst als junger Autor" beschrieben. Dass er sich dabei in einen frei erfundenen Spionage-Plot hineinfantasiert, macht die realen Elemente erstaunlicherweise nur noch glaubhafter.

Das geht anscheinend so weit, dass er selbst nicht immer ganz mitkommt, wenn es darum geht, zwischen dem, was geschehen ist, und dem, was hätte geschehen können, zu unterscheiden: Der Times vertraute er jüngst an, er sei fest davon überzeugt gewesen, 2012 eine "in jede Hinsicht perfekte Novelle" geschrieben und das Manuskript verlegt zu haben. Doch habe sich das als "falsche Erinnerung" entpuppt. Die Novelle sei nie geschrieben worden. Deshalb könne er sich auch nicht mehr an den Inhalt erinnern, nur an ihr "Ambiente". Niemand verwischt die Grenzen virtuoser als Ian McEwan. An diesem Donnerstag wird er 70 Jahre alt.

© SZ vom 21.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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