Caren Miosga liest Uwe Johnson:Gesines Gedanken

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Von der Journalistin Caren Miosga und dem Schauspieler Charly Hübner erstmals vollständig eingelesen: Uwe Johnsons "Jahrestage". (Foto: stückwerke/Die Kulturfima)

Charly Hübner und Caren Miosga haben erstmals Uwe Johnsons "Jahrestage" vollständig eingelesen und erschließen den detailvernarrten Jahrhundertroman damit einem neuen Publikum.

Von Florian Welle

2024 wird ein Uwe-Johnson-Gedenkjahr. Im kommenden Februar vor vierzig Jahren starb der Schriftsteller in seinem Haus in England, mit nur 49 Jahren - das beschädigte Herz. Mit seinem zwischen 1970 und 1983 entstandenen Romankoloss, dem vierbändigen, 1700 Seiten schweren "Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl" hat er ein Jahrhundertwerk vorgelegt. Im kommenden Juli vor neunzig Jahren wiederum wurde Johnson in Cammin, dem heutigen Kamień Pomorski, geboren. Seine Jugend- und Studienzeit verbrachte er nach dem Krieg in Mecklenburg-Vorpommern.

In jenem Landstrich also, in dem er später sein fiktives Ostseedorf Jerichow ansiedelte, dessen Geschichte von den Dreißigerjahren bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Familie Cresspahl erzählt wird. Und in dem sich auch das Landestheater Neustrelitz befindet, das ihm in dieser Spielzeit eine Veranstaltungsreihe widmet. Mit dabei: Charly Hübner und Caren Miosga.

Gegenwart ist nie möglich ohne Vergangenheit, davon erzählt dieser Jahrhundertroman

Der in Neustrelitz geborene Schauspieler und die Fernsehjournalistin stellen ihre Lesung von Johnsons Opus magnum vor, die gerade bei DAV erschienen ist. Und zwar zum ersten Mal in voller Länge, nachdem sich 1995/96 Max Volkert Martens schon einmal daran gesetzt und eine um gut die Hälfte gekürzte Version eingesprochen hatte. Diese dauerte 40, die aktuelle Lesung nun knapp 74 Stunden. Dank der außerordentlichen Leistung von Charly Hübner, der den weitaus größten Part zu bewältigen hatte, ein Wurf, mit dem er sich in die Geschichte des Hörbuchs einschreiben dürfte. Fortan wird man seinen Namen in einem Atemzug mit den Hörbuch-Monumenten von Peter Matić ("Auf der Suche nach der verlorenen Zeit") und Wolfram Berger ("Der Mann ohne Eigenschaften") nennen.

Würde man täglich an die acht Stunden hören, wäre man nach zehn Tagen mit Johnsons Werk fertig, das vor dem Hintergrund des Holocaust um die Thematik von Erinnern und Vergessen, Schuld und Verantwortung kreist und gleichermaßen Provinzgeschichte, Familienchronik, Zeit-, Medien- und historischer Roman ist. Man könnte sich freilich auch ein Jahr lang jeden Tag einen der 366 Tageseinträge anhören und so den "Jahrestagen" womöglich am gerechtesten werden.

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Es ist die 1933 in Jerichow geborene und seit 1961 in New York lebende, alleinerziehende Mutter Gesine Cresspahl, eine Frauenfigur von ungeheurer Modernität, die hier vom 21. August 1967 bis zum 20. August 1968 auf ihre problematische Herkunft blickt und gleichzeitig dank der täglichen Lektüre der New York Times, mit der sie "wie mit einer Person" Umgang pflegt, die eigene Gegenwart reflektiert: vom Vietnamkrieg über den Rassismus in ihrer Wahlheimat bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen in Prag, mit dem auch die Hoffnung auf einen menschenfreundlicheren Sozialismus ihr Ende findet.

Das Ineinander von Vergangenheit und Gegenwart prägt den Roman ebenso wie dessen besondere Erzählhaltung, über die es einmal heißt: "Wer erzählt hier eigentlich, Gesine. Wir beide. Das hörst du doch, Johnson." Johnson gab über sein Schreiben die beredte Auskunft, ihm werde von "seinen Leuten" deutlich "vorgesprochen". Insofern hat Holger Helbig, Inhaber der Uwe-Johnson-Professur an der Universität Rostock, recht, wenn er im Booklet anführt, die "Jahrestage" seien von Anfang an eine Geschichte gewesen, die nicht nur aufgeschrieben wurde, um gelesen, sondern auch, um gehört zu werden.

Charly Hübner kennt den mecklenburgischen Sound dieser Geschichte

Es ist daher schlüssig, dass der Regisseur Wolfgang Stockmann in Hübner und Miosga zwei Sprecher ins Studio geholt hat. Indem sie Johnsons kunstvoll arrangierten Chor der Stimmen gemeinsam zu Gehör bringen, bekommt die Aufnahme eine Energie und Lebendigkeit, die ihresgleichen sucht. Schon nach kurzer Zeit entwickelt sie einen Sog, der es auch verträgt, wenn man einmal mit den Gedanken abschweift. Was angesichts von Johnsons detailvernarrtem Schreiben durchaus vorkommen kann.

Von Caren Miosga, die nicht nur, aber auch die Zitate aus der "Tante Times" vorträgt, erwartet man den typischen Nachrichtenton. Den aber liefert sie gerade nicht. Stattdessen moduliert sie wie eine Schauspielerin. Mitunter auch an Stellen, wo es gar nicht nötig wäre, so etwa, wenn sie bei Ilse Koch, der "Bestie von Buchenwald", das "Bestie" noch eigens betont. Einen besseren Interpreten für die "Jahrestage" als Charly Hübner wiederum kann man sich nicht vorstellen.

Uwe Johnson, Jahrestage. Aus dem Leben von Gesine Cresspahl. Ungekürzte Lesung mit Charly Hübner und Caren Miosga. 73 Stunden und 53 Minuten. DAV, Berlin 2023, 60 Euro. (Foto: DAV)

Hübner sucht seine Projekte gezielt aus und ist dabei seiner Heimat oft eng verbunden. Jahrelang war er der Kommissar Sascha Bukow im Rostocker "Polizeiruf 110", über die mecklenburgische Punkband Feine Sahne Fischfilet drehte er den Dokumentarfilm "Wildes Herz". Dass er sich nun Uwe Johnsons angenommen hat, ist nur folgerichtig. Als Sohn Mecklenburgs ist ihm dessen Sound nicht fremd, die plattdeutschen Passagen der "Jahrestage" beherrscht er sowieso. Er liest unaufgeregt und souverän, manchmal blitzt der Schelm durch. Er erschließt dieses Riesenwerk einem neuen Publikum.

Angesichts eines wachsenden Antisemitismus ist "Jahrestage" kein aus der Zeit gefallener Roman, sondern immer noch beklemmend aktuell. Darin benennt Johnson das Mindeste, was man tun kann. Nämlich: "Wenigstens mit Kenntnis zu leben."

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