Hörbuch 1:Provinz im Zerrspiegel

Lesezeit: 1 min

Philip ist genervt, die Mutter will schon wieder wegziehen, es gibt Familiengeheimnisse, eine Sekte, Gewalt. "Muttertag" ist der erste Roman von Andre Murmot, eine Welt im Zusammenbruch, deshalb von David Nathan mit der nötigen Ruhe gelesen.

Von Jens Bisky

Der sechzehnjährige Philip hat eine Bruckner-Phase, "donnerndes Orchester bei stechendem Sonnenschein", als seine Mutter wieder einmal neu beginnt und für einen anderen Job fortgeht aus Kronstedt, wo die beiden im Haus eines Großonkels wohnen. Philip hat vier Umzüge in zehn Jahren hinter sich und fürchtet schon neue Lebensabschnittspartner, die sich erschreckend wohlwollend zu ihm herabbeugen.

Er will nicht länger bloßes Anhängsel sein, das Eigene, eine Art Selbständigkeit stehen auf der Tagesordnung. Für ihn ist das Eigene mit Vorstellungen von Normalität, durchschnittlichem Dasein verbunden. Aber daraus wird vorerst nichts. Zu den Familienwirren kommen Gewalttaten, die Aktivitäten einer Sekte und ihrer Verfolger. Und dann sind da noch jahrzehntealte Geheimnisse. Bald weiß Philip, dass er dem Augenschein nicht trauen kann, dass der Großonkel weit mehr ist als bloß ein harmloser Pensionär.

"Muttertag" ist der Debütroman des Übersetzers und Journalisten André Mumot. Er nimmt sich Zeit, Schauplätze zu beschreiben, Figuren einzuführen, verschiedene Handlungsstränge zu entwickeln, deren Zusammenhang rätselhaft bleibt. Dieser Erzähler hat Vergnügen daran, Horror- und Thrillermotive herbeizuzitieren und sie in der deutschen Provinz mit dem Familienroman zusammenzuführen zu einem Panorama der Bitternisse, der kleinen und großen Machtkämpfe.

David Nathan spricht diesen Roman mit der großen Ruhe, die es braucht, wenn eine Welt im Zusammenbruch vorgeführt und dann als Universum aus gelösten Rätseln wieder aufgebaut wird. Zugleich verlebendigt er diese Ruhe durch Nuancen seiner Stimme, passt Tonhöhe und Geschwindigkeit den Charakteren und Stimmungen an.

Der Roman beginnt mit einer Szene des Ausgeliefertseins. Ein Mädchen soll fort-, soll hinaufgebracht werden. Man weiß nicht wohin, nicht wozu. "Und wenn sie sich wehrt? Sie bleiben stehen, werfen einander unschlüssige Blicke zu, flüstern kurz miteinander. Sie schauen sich um im Raum und dann zögerlich zu ihr hinüber. Wird sie diesmal tun, was man ihr sagt. Sie muss ..." Die Ohnmacht des Mädchens spiegelt sich in der Ungewissheit der mit Messern bewaffneten Männer, wie viel Gewalt sie anwenden müssen. Nach diesem Prinzip des Zerrspiegels ist "Muttertag" konstruiert: Man muss lange hineinschauen, einen Ausweg zu finden.

André Mumot: Muttertag. Gelesen von David Nathan. Lübbe Audio, Köln 2016. 6 CDs, 389 Minuten, 20 Euro.

© SZ vom 17.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: