London unterschied sich von Städten wie Dubai oder Kuala Lumpur lange dadurch, dass seine architektonischen Wahrzeichen nicht in erster Linie als solche geplant waren. Der Palast von Westminster ist bei aller gotischen Versponnenheit zunächst mal ein Parlamentsgebäude, der Tower eine Stadtfestung, St. Paul's eine Kirche. Renzo Pianos "Shard" aber trat, lange bevor er 2009 in den Himmel zu wachsen begann, mit der Ambition an, das neue prägende Wahrzeichen der Londoner Skyline zu werden.
Wenn an diesem Donnerstag Katars Premierminister Hamad bin Jassim bin Jabr al-Thani den 310 Meter hohen Wolkenkratzer mit einer Lasershow eröffnet, vollendet er damit zugleich ein architektonisches Eroberungsprojekt. Visuell dominiert das derzeit höchste Gebäude Westeuropas, dessen unregelmäßig gezackte Spitze in den tiefhängenden Londoner Sommerwolken verschwindet, nun dramatisch den Blick auf eine Stadt, deren Anmutung über Jahrhunderte mehr von der Breite als der Höhe lebte.
Die Cluster von Wolkenkratzern in den Docklands und der City, wo auch Norman Fosters "Gherkin" steht, befinden sich abseits des Stadtpanoramas. Wenn man aber von Parliament Hill im Nordwesten aus auf London hinabblickt, dann stellt Pianos "Glasscherbe" St. Paul's bildlich und tatsächlich in den Schatten; es lässt Christopher Wrens Meisterwerk zwergenhaft erscheinen.
Offiziell wird nun die Fertigstellung der Außenkonstruktion des Shard gefeiert. Das sagt schon für sich genommen viel über ein Projekt, dem es offenkundig vor allem auf die Außenwirkung ankommt. Dass ein Gebäude, das voraussichtlich erst im kommenden Februar bezugsfertig sein wird, schon jetzt seine Einweihung erfährt, hängt aber wohl auch mit den Olympischen Spielen zusammen. Olympia - das ist genau die Liga, in der der frühere Immobilienunternehmer Irvine Sellar sein Gebäude sieht.
Mit ungeheurem Ehrgeiz, gegen alle Widerstände, und trotz eines Einbruchs der Finanzierung, der das Projekt zu Beginn der globalen Wirtschaftskrise 2008 fast zum Erliegen gebracht hätte, hat Sellar seinen Plan wahr gemacht, ein Gebäude in die Metropole zu pflanzen, mit dem London "dem Eiffelturm in den Hintern treten kann". Diese Vision gefiel offensichtlich auch dem Emirat Katar, das als Hauptfinanzier einsprang und den Shard vor dem Bankrott rettete.
Das wie eine in die Länge gezogene Glaspyramide wirkende Konstrukt bei London Bridge hat mindestens ebenso viel Kritik auf sich gezogen, wie der in Paris zunächst höchst ungeliebte Eiffelturm. Nach Ansicht der Unesco gefährdet die Disproportionalität seiner 87 Stockwerke den Weltkulturerbe-Status des Tower of London; nebenbei hat der Shard zur Bildung des Begriffs "Oligarchitektur" geführt. Der fertige Turm wird neben Büros, einem Verkaufs- und Restaurantbereich und einem Wellness-Center auch auf 13 Stockwerke verteilte Luxus-Apartments enthalten. Die Wohnungen sollen zwischen 37 und 62 Millionen Euro kosten. Preise, die auf Kunden wie den ukrainischen Oligarchen Rinat Akhmetov zugeschnitten sind, der 2011 bereits ein Londoner Penthouse für 162 Millionen Euro kaufte.
Piano und Sellar beharren jedoch darauf, dass der Shard zur Regeneration der Umgebung beitragen werde. Das ist nur möglich, wenn er ein offener, zugänglicher Teil der Infrastruktur dieser teilweise arg heruntergekommenen Gegend wird. Inwiefern eine solche Öffnung realistisch ist, wird sich frühestens kommendes Jahr zeigen. Dann soll eine Aussichtsplattform auf 244 Metern eröffnen - und nach Sellars Willen ein Besuch des Shard ebenso Teil des touristischen Pflichtprogramms werden, wie es für New York die Besichtigung des Empire State Building ist.