Helmut Klages Sachbuch "Expedition zur Mitte":Die relative Mehrheit der Unbeeindruckbaren

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Wer zwischen den Stühlen sitzt, blickt nervös zu seinen Sitznachbarn, um zu sehen, wo sich ein neuer Konsens ankündigt - und schließt sich diesem dann vorsichtig an: Stützen der Gesellschaft. (Foto: DPA)

Der Soziologe Helmut Klages hat sich mit echter Neugier auf eine "Expedition" begeben zur sagenumwobenen Mittelschicht. Bröckelt sie oder bröckelt sie doch nicht?

Von Oliver Weber

Wenn 2024 Donald Trump erneut als Präsident der Vereinigten Staaten kandidiert - und also der Fortbestand der amerikanischen Demokratie ernsthaft bezweifelt werden darf, würde er auf die "apathische, träge Masse" wetten, schrieb kürzlich ein Kolumnist der Financial Times. Die vielen Millionen Wahlberechtigten, die nicht stundenlang Fox-News schauen oder aufgeregt durch Facebook scrollen, sondern mit der Schulter zucken und ihr Leben leben, gäben ihm Anlass zur Hoffnung. Ist diese Hoffnung vielleicht verallgemeinerbar? Der Soziologe Helmut Klages erblickt auf seiner "Expedition" zur deutschen "Wählerschaft zwischen links und rechts" ein Herdentier, dessen Unbeeindruckbarkeit die wichtigste Stütze der Republik sein könnte.

Die "Mitte" ist seit eh und je ein vielbesprochener Ort. Schon in der "Politik" des Aristoteles bezeichnet sie denjenigen Bürgerstand, der, wohlhabend genug, den Demagogen die kalte Schulter zeigt, während er, bescheiden wie er ist, das Mehrhabenwollen der Reichen anstößig findet. Der gute Stadtstaat lebt von ihm, weil er zur Erhaltung der Verfassung neigt. Von dieser Grundbedeutung geht auch Klages aus, der 1955 bei Helmut Schelsky promoviert hat und von 1975 bis zu seiner Emeritierung Organisations- und Verwaltungssoziologie in Speyer lehrte. Doch ihm sind auch die gegensätzlichen Zuschreibungen bekannt: Insbesondere Friedrich Nietzsche hörte im Wörtchen "Mitte" eher das Echo "Mittelmaß" und "mittelmäßig" nachklingen. Die "Verzögerer par excellence, die Langsam-Aufnehmenden, die Schwer-Loslassenden" - sie alle lähmen den Fortschritt der Kultur. Doch was wäre, wenn beide, Aristoteles und Nietzsche, letztlich dieselben meinen?

Für die OECD zählt hierzulande zur "Mitte", wer 75 bis 200 Prozent des mittleren Einkommens von rund 3300 Euro brutto verdient

Diese Vorüberlegungen sind der Beginn einer recht trockenen empirischen Untersuchung, die - was beim Lesen erheiternd wirkt - jedoch mit der Neugierde und Entdeckungsfreude eines echten Abenteurers vorgetragen wird. Dabei ist dem Autor bewusst, dass er "keineswegs eine 'Expedition' in unberührtes Neuland" unternimmt: Die hierzulande verfassten Mitte-Bücher und Mitte-Studien dürften ganze Bibliotheksregale füllen. Greift man zwei jüngere Beispiele heraus, erblickt man aber eine gewisse Verlegenheit in definitorischen Fragen.

Für die OECD, die jüngst eine "bröckelnde Mittelschicht" verkündete, zählt zur "Mitte" einfach, wer 75 bis 200 Prozent des mittleren Einkommens verdient (2020 lag das in Deutschland bei rund 3300 Euro brutto im Monat). Eine recht grobe Sortierung. Soziologen wie Andreas Reckwitz versuchen sich dagegen an einer kulturellen Detail-Typisierung verschiedener "Mittelklassen", die "alt" und "neu", "mobil" und "akademisch" heißen können, oder gleich einen "singularistischen Lebensstil" angetextet bekommen. Aus diesem Durcheinander verspricht Klages' Buch, bei dem Mario Wolf half, einen denkbar unkomplizierten Ausweg: Mitte ist, wer sich als Mitte versteht.

Helmut Klages: Expedition zur Mitte - Über die Eigenschaften der Wählerschaft zwischen links und rechts. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2022. 159 Seiten, 25 Euro. (Foto: Campus Verlag)

Das sieht nach einem Taschenspielertrick aus. Jedoch einer, der vor den Augen des Publikums vorgeführt wird: Es stelle einen "beträchtlichen Fortschritt dar", das Definieren "der Selbstpositionierung der Bevölkerung anheimzustellen". Sprich: Den Befragten wird eine politische Links-Rechts-Skala vorgelegt und sie dürfen sagen, wo sie sich verorten würden. "5" steht für Mitte - eine schon intuitiv attraktive Lage.

Derart in die Willkür der Einzelnen verlegt, verliert der Begriff "Mitte" natürlich alle relevanten Unterscheidungen. Aber gerade dieser Schachzug bringt die interessantesten Erkenntnisse des Buches hervor: Statt eine präzis umgrenzbare Sozialschicht zu finden, erhascht Klages so einen Blick auf die politische Gruppe derer, die sich als Mitte verstehen - ohne zu wissen, was genau das eigentlich bedeutet. Der Soziologe vertauscht also kurzerhand Wirkung und Ursache: Zuerst kommt die politische Verortung, dann die soziale Beschreibung.

Wenn überhaupt, werden Links- und Rechtspositionierungen mit steigendem Berufsstatus häufiger

Da ist es schon fast nicht mehr verwunderlich, dass sich von 1977 bis 2019 durchgängig rund 40 Prozent der Deutschen exakt zwischen Links und Rechts positionierten. Die gegenwärtig viel beklagten "Spaltungen", so der etwas kühne Schluss Klages', seien in den Daten also nicht zu erkennen. Und wie sieht es mit der Sozialstruktur der Mitte aus? Findet man auf diesem Weg den vielbeschworenen "Mittelstand"? "Die von uns so erfasste 'exakte' politische Mitte hat keinen genau angebbaren gesellschaftlichen Ort". Ihre Mitgliederliste erstreckt sich von der ungelernten Hausfrau über den einfachen Angestellten bis zum gehobenen Beamten - überall dort sieht sich eine relative Mehrheit bequem in der Mitte eingereiht. Wenn überhaupt, werden Links- und Rechtspositionierungen mit steigendem Berufsstatus häufiger. Und finden sich hier die pflichtbewussten Wähler? Eher nicht: Die Partizipationsraten liegen unter jenen der beiden politischen Flügel.

Das alles klingt arg nach "Neutralität" und "politischer Positionslosigkeit". Als sei "Mitte" nur eine Ausrede dafür, mit Politik letztlich nichts am Hut haben zu wollen. Aber auch das stimmt so nicht: Im Verlauf der Zeit sieht man, dass die politische Mitte "entweder mit dem linken oder mit dem rechten Flügel" - je nachdem, welcher von ihnen gerade stärker war - "mitwanderte, das heißt gewissermaßen mit der Mehrheit ging." Wer zwischen den Stühlen sitzt, blickt also nervös zu seinen Sitznachbarn, um zu sehen, wo sich ein neuer Konsens ankündigt - und schließt sich diesem dann vorsichtig an. Volksparteien dürfen also nicht dem Irrtum erliegen, sie müssten möglichst unerkennbar sein, um lange zu regieren. Erfolgreich sind sie, wenn sie selbstbewusst festlegen, was im Wahlvolk später als neue "Mitte" gilt.

Klages adelt diesen trägen Opportunismus der "Mitte" zu einer "vernünftigen" und "pragmatischen" Überzeugung, einer geradezu "anti-ideologischen" Haltung. Diesen übertriebenen Schritt muss man nicht mitgehen, um den Vorteil einer relativen Mehrheit von Unbeeindruckbaren zu sehen: Wenn unsere Republik im Grunde bejahenswert ist, dann muss derjenige, der an ihr rumschrauben will, erst dieser Gruppe beweisen, dass mit ihm Besserung zu erwarten ist. Der politische Charakter der Mitte liegt also gerade darin, so Klages erhellender Schluss, keine Klasse für sich zu sein. Ihre wichtigste Funktion ist, dass sie sich ungern hinter einem bestimmtem Projekt oder irgendeiner Idee vereinen lässt - sehr zum Ärger von Flügelparteien und Soziologen. Mediokrität also, die dem Erhalt des Staates entgegenkommt. Was aber, fragt man sich nach der Lektüre dieses gelungenen Buches, wenn ein Land - man denke an den Klimawandel - lernen muss, sich schnell zu bewegen, um dasselbe zu bleiben? Dann ist die träge Masse vielleicht einfach nur noch: träge.

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