Erste Frage an die Bachmannpreisträgerin des Jahres 2020: "Hören Sie mich?" Zwischen dem Moderator der Preisverleihung in Klagenfurt, Österreich, und Helga Schubert, die in Neu Meteln lebt, "einer Worpswede-Landschaft" in Mecklenburg, lagen gute tausend Kilometer und Videokonferenz-typische Sprachverzögerungen: Der Wettbewerb um den Ingeborg-Bachmann-Preis wurde dieses Jahr wegen der Corona-Pandemie digital ausgetragen. Autorinnen, Autoren und Jury waren aus ihren Arbeitszimmern zugeschaltet, im Landesstudio Kärnten des ORF moderierte Christian Ankowitsch die Literatur aus dem deutschsprachigen Raum zusammen.
Die Kritikerjury traf nach drei Tagen Kampf eine unanfechtbare Entscheidung
Die Form war noch nie dagewesen bei einem aufwendigen Fest der Literatur und vor allem auch der Literaturkritik, wie es der Bachmann-Wettbewerb ist. Das Ergebnis steht dabei für Kontinuität und das historische Gewicht dieser Institution: Nicht nur war Helga Schubert, die 1940 geboren wurde, die älteste Teilnehmerin, die es je gab, sie hat auch eine Geschichte mit dem Bewerb. 1980 war sie schon einmal eingeladen, als Autorin dort zu lesen. Aber da verbot ihr die DDR die Ausreise. 1987 bis 1990 durfte sie dann doch als Jurorin nach Klagenfurt fahren, bekam aber einen systemtreuen Aufpasser mitgeschickt. 2020 hat sie nun also den Ingeborg-Bachmann-Preis gewonnen. Für einen Text mit allen Anzeichen des Autobiografischen, in dem eine Erzählerin im ersten Aufwachen morgens sich an eine Mutter-Kind-Beziehung erinnert, die versehrt ist vom Krieg: "Wärst du doch damals gestorben auf der Flucht", sagt die Mutter und zählt doch auf, wie oft sie dem Kind das Leben gerettet hat. Und ein Mensch im Nebenzimmer kommt vor, der 50 Jahre lang das Frühstück gemacht hat und heute nicht mehr aufstehen kann.
"Das achtzigste Jahr" hätte sie den Text gerne genannt, sagte Helga Schubert bei der Video-übertragenen Preisverleihung, hätte sie nicht fürchten müssen, sich der Jury allzu sehr anzudienen. Nach der berühmten Erzählung "Das dreißigste Jahr" von Ingeborg Bachmann nämlich, die mit den Sätzen endet: "Steh auf und geh! Es ist dir kein Knochen gebrochen." Die digitale Version des Wettbewerbs sei ihr allerdings sehr gelegen gekommen: So habe sie für ihren Mann, den sie pflege, da sein und trotzdem teilnehmen können.
Am Ende hat die Kritikerjury also eine völlig unanfechtbare Entscheidung getroffen, nachdem sie drei Tage lang ziemlich zäh zu kämpfen hatte. Und zwar nicht mit der Übertragungstechnik und leider auch nicht um literaturkritische Methoden, sondern mit der Attitüde eines ihrer Mitglieder. Philipp Tingler, zum ersten Mal dabei, schreibt selbst Unterhaltungsromane und ist im Schweizer Fernsehen als Literaturkritiker zu sehen. Mit seinen Marken-Pullis und egomanischen Ausfällen machte er zwar den Kommentatoren auf Twitter viel Spaß. Am Format dieser Veranstaltung hatte er sich aber offenkundig verhoben. Außer normativen Meinungen ("Literatur sollte eine Geschichte erzählen") und Kalendersprüchen, wie "Literatur ist dazu da, Welten zu eröffnen", hatte er wenig zu bieten. Da kann eine halbe Stunde Diskussion ganz schön lang werden. Tingler meldete sich oft und laut zu Wort und zwang seine Kollegen zu pädagogischen Einlassungen. Gerade im Kontrast glänzten aber in diesem Jahr die Dynamik, Vielfalt und Belesenheit ihrer Interpretationen. Brigitte Schwens-Harrant, Feuilletonchefin der österreichischen Wochenzeitung Die Furche, auch zum ersten Mal in der Jury, erwies sich nach anfänglicher Zögerlichkeit als sich sehr genau einfühlende Leserin.
Vier weitere Preise werden in dem Wettbewerb vergeben: Den Deutschlandfunk-Preis bekam Lisa Krusche für eine an die Transhumanismus-Theoretikerin Donna Haraway anschließende Geschichte, die die Grenzen der Spezies und der physischen und virtuellen Räume locker übersprang. Den vom Klagenfurter Energie-Unternehmen Kelag gestifteten Preis bekam Egon Christian Leitner, ein in der Grazer Literaturwelt bereits für seinen Sozialstaatsroman berühmter Autor. Vor dem Schicksal, durch die Abstimmungstaktiken der Juroren zu rutschen, wie es immer wieder Favoritinnen geschah, wurde Laura Freudenthaler dann doch bewahrt. Für ihren Text, in dem ein unterirdischer Schwelbrand eine versehrte Landschaft durchwühlt, bekam sie den 3-Sat-Preis. Den Publikumspreis, den die BKS-Bank stiftet, und der mit einem Stadtschreiber-Stipendium der Stadt Klagenfurt verbunden ist, gewann Lydia Haider. In der Jury-Debatte war sie mit ihrem an den Wiener Aktionismus erinnernden Text durchgefallen. Einen Text, der absolut souverän wirkt und trotzdem leer ausgeht, gibt es fast jedes Jahr. Diesmal die Geschichte, mit der Hanna Herbst, Chefin vom Dienst in einer Sendung von Jan Böhmermann, den Abschied von einer Vaterfigur feierte. In ihrem Vorstellungsvideo sang sie: "Wär ich doch nur ne Schriftstellerin." Das geht aber auch ganz ohne Preis.