Heimat:Fühlen Sie sich bedroht?

Lesezeit: 4 min

Okan Türkyilmaz hatte einmal zwei Heimaten und einen Pass. Nun darf er nicht mehr in die Türkei. Er schwärmt für Fethullah Gülen und macht sich damit verdächtig. In Hamburg arbeitet er bei einem Verein für Migranten.

Von  Tim Neshitov

Die Fischsuppe schmeckt am besten mit Zitrone: vier, fünf Tropfen in die dampfende Schüssel quetschen, umrühren, warten. Dazu Weizenbrot, darauf Olivenöl. Er beißt in das Brot über dem Dampf, die randlose Brille läuft an. In seinem deutschen Pass steht: Okan Türkyilmaz, geboren 1976 in Denizli. Westtürkei. Wenn er "Zitrone" sagt, klingt das wie bei vielen Türken, die über den deutschen Konsonanten "Z" stolpern und dann das "i" weglassen, als müssten sie das Wort ganz schnell zu Ende bringen: "Tstrone". Er liebt Deutsch, aber er stolpert eben.

Einen türkischen Pass hat er nicht. "Ein Pass reicht", sagt er, "das sehe ich wie Roland Koch." Koch (ein Politiker der CDU) hat in Hessen regiert, als Okan Türkyilmaz dort Wirtschaftsingenieurwesen studierte. Nun lebt Türkyilmaz in Hamburg und betreibt Kitas.

In Hamburg-Eimsbüttel über Heimat zu reden, ist angesichts des aktuellen Weltgeschehens so, als würde man vor einem lodernden Kamin sitzen und über das Wetter sinnieren, während draußen ein Schneesturm tobt. Eimsbüttel ist sehr heimelig, egal wo auf der Welt man geboren wurde, nette Läden, nette Leute, nicht zu bussibussi und nicht zu anarcho, Isebekkanal, saubere Luft, keine Bomben vom Himmel, und, ganz wichtig für Türkyilmaz: Der Erdoğan hat hier nichts zu sagen, dieser türkische Präsident.

Der Feinkostladen in der Osterstraße gehört einem Türken, heißt aber nicht "Istanbul" oder "Pamukkale", sondern "Euro Vita". Der Chef stellt sich im Internet so vor: "Hallo, mein Name ist Fikret Kara - unter den Italienern auch Fiko genannt." Fiko hat bei italienischen Wirten in Blankenese gelernt.

"Merhaba", sagt Okan Türkyilmaz zu Fiko. Man kennt sich. Also nichts mit "buon giorno".

Türkyilmaz hat sich vor Jahren eine Internetdomain gesichert: Haymatlos.de. Die Seite befindet sich im Aufbau. Das Thema Heimat beschäftigt ihn, aber er kann seine Gedanken bis heute nicht in Worte fassen. Mittlerweile kam sogar ein Film in die Kinos, im türkischen Putschjahr 2016, der "Haymatloz" hieß, mit Z. Er handelt von deutschen Wissenschaftlern und Künstlern, die in den Dreißigerjahren vor Hitler in die Türkei geflohen waren.

Okan Türkyilmaz geht es eher um die andere Fluchtrichtung. Er hatte früher zwei Heimaten (diese Pluralform klingt seltsam, aber laut Duden gehört die Vokabel zum Wortschatz des Zertifikats Deutsch). Seit anderthalb Jahren hat er nur noch anderthalb Heimaten.

"Die Türkei ist für mich erledigt", sagt er und wiederholt das auf Türkisch: Türkiye benim için bitti. Und reibt sich die Hände, als hätte er gerade einen schweren Rucksack abgestellt. Seiner türkischen Frau liegt die Türkei weiterhin sehr am Herzen, deswegen bleibt die Türkei dann doch auch seine Heimat. Zumindest die Kindheitserinnerungen, die kann einem niemand nehmen.

Okan Türkyilmaz ist Geschäftsführer des Akademikerbunds Hamburg, der für das Bundesamts für Migration Deutschkurse und Austauschprogramme anbietet und Kitas betreibt. (Foto: Tim Neshitov)

Aber wenn er morgen in diese Heimat reisen würde, würde man ihn dort vermutlich noch am Flughafen festnehmen und der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung anklagen oder bis auf Weiteres in Untersuchungshaft stecken, so wie Zehntausende in der Türkei. Weil er für Fethullah Gülen schwärmt.

Gülen ist ein einflussreicher Prediger und ehemaliger Unterstüzer Erdoğans; der Autokrat Erdoğan wirft dem Charismatiker Gülen vor, den Putschversuch vom 15. Juli 2016 ausgeheckt zu haben. Erdoğan, von dem leider keine unabhängige Untersuchung des Putsches zu erwarten ist, hat alle Gülen-Anhänger zu Terroristen erklärt.

Türkyilmaz ist Geschäftsführer des Akademikerbundes Hamburg e. V. Der Verein bietet im Auftrag des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge Deutschkurse an, betreibt drei städtisch bezuschusste Kitas, beteiligt sich an EU-finanzierten Austauschprojekten: Was können zum Beispiel deutsche Jugendzentren von den rumänischen lernen? Jedes Jahr veranstaltet der Akademikerbund im Gästehaus der Uni eine Tagung zum Thema "Kultur des Zusammenlebens".

Das macht Türkyilmaz, der ja eigentlich studierter Ingenieur ist (Masterabschluss von einer Uni in Texas), weil er Gülens Bücher gelesen hat. Für ihn ist Gülen kein Terrorist, kein Sektenführer, sondern ein Islamgelehrter, der Wert auf Bildung legt.

Im vergangenen März bekam Türkyilmaz einen Anruf vom Landeskriminalamt Hamburg: Er möge auf Reisen in die Türkei verzichten. Und sollte er sich in Deutschland bedroht fühlen, möge er folgende Nummer wählen.

.. Fühlt er sich denn bedroht? Nein, sagt er, nicht wirklich. Aber die Türkei als Heimat, als Sehnsuchtsort ist für ihn erledigt. Er will eine Ausstellung machen über politisch Verfolgte in der Türkei: Foto, Umstände der Verhaftung, Foto, Fluchtgeschichte (wenn die Flucht denn gelungen ist).

Eine der Kitas vom Akademikerbund heißt Kleine Füchse. Sie liegt im Hamburger Osten. Bis vor Kurzem war hier eine Sparkassenfiliale untergebracht, im Tresorraum ist nun ein Bällebad. Tausende rote, lila, blaue Plastikbälle in Apfelgröße. Im Bad planschen ein Spiderman, ein Schmetterling, ein Superman, ein Tiger und noch jemand. Vier bis fünf Jahre alte Menschen, Fasching in der Kita. Die Wand des Tresorraums ist einen Meter dick. Okan Türkyilmaz setzt sich auf eine niedrige Holzbank.

SZ-Serie: Jeder Mensch hat eine Heimat. Oder nicht? Oder auch zwei? Eine Artikelreihe untersucht die Ver- und Entwurzelung in bewegten Zeiten. (Foto: SZ)

"Vielleicht mache ich das auch nur, weil ich selbst gerne in so eine Kita gegangen wäre", sagt er. Geld verdiene man mit so einer Kita jedenfalls nicht. Türkyilmaz versucht, den Personalschlüssel so zu halten, dass eine Erzieherin für sieben bis acht Kinder zuständig ist. Es gibt in Hamburg Kitas, in denen der Schlüssel ganz anders aussieht, in denen eine Erzieherin elf oder zwölf Kinder betreut.

Okan Türkyilmaz ist in einem Dorf aufgewachsen. Türkei der späten Siebziger-, frühen Achtzigerjahre, Hühner und Kühe auf der Straße, 50 Grundschüler in der Klasse, in Ankara putscht das Militär. Eine Kindheit ohne Vater. Der baut gerade Öfen und Elektroherde in einer Fabrik im hessischen Herborn. Als Okan selbst nach Deutschland kommt, mit 15, kann er kein Wort Deutsch. Seine Mutter spricht bis heute kein Deutsch.

Der Tiger im Bällebad kommt aus Eritrea, beziehungsweise des Tigers Eltern, er überlegt gerade, ob er weinen sollte. Der Superman stammt aus Spanien. Der Spiderman aus der Türkei. Sie suchen in den Bällen den Haarreif des Schmetterlings. Etwa zwei Drittel der Kinder hier haben zwei Heimaten. Türkyilmaz hat eine dreijährige Tochter, aber sie geht in eine evangelische Kita.

"Ich bin eigentlich sehr deutsch", sagt er. "Ich besuche meine Eltern an Weihnachten! Aber für die meisten Deutschen bin ich erst mal der Türke. Wegen meines Akzents. Wegen meines Namens". Türkyilmaz heißt übersetzt: Der Türke weicht nicht zurück.

Er ist schon immer viel umgezogen in seinem Leben, hat an keinem Ort länger als fünf Jahre gelebt. "Das macht einen zum Weltbürger", sagt er. Mehmet Altan, ein türkischer Autor und Freund von Okan Türkyilmaz, einer der hellsten Köpfe der Türkei (als Terrorhelfer gerade im Knast), hat mal über die Grenzen in den Köpfen geschrieben, das blieb bei Türkyilmaz hängen: Wenn Marsmännchen die Erde angreifen, wird sich die Menschheit zusammentun? Oder werden die Deutschen, die Türken, die Amerikaner getrennt kämpfen?

Der Akademikerbund mietet im Univiertel ein kleines Büro. An den Wänden hängen Plakate diverser Behörden, die Einwanderer zum Deutschlernen, zur Integration, zum Arbeitfinden motivieren. Im Treppenhaus kommt Türkyilmaz ein türkischer Student entgegen, frisch aus der Türkei geflohen. Merhaba - Merhaba.

"Schauen Sie", sagt Türkyilmaz. "Noch ein Türke, der sich in die türkische Gesellschaft nicht integrieren konnte."

© SZ vom 19.02.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: