Günter de Bruyn wird 90:Alte Herrlichkeiten

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Günter de Bruyn. (Foto: Patrick Pleul/dpa)

Er ist einer der großen DDR-Erzähler. In der Kindheit las er, als Mittel gegen Isolierung, Karl May.

Von Gustav Seibt

Im Jahr 1972 publizierte der damals 46 Jahre alte Günter de Bruyn, längst einer der bekannten Erzähler der DDR, in der von der Akademie der Künste herausgegebenen Zeitschrift Sinn und Form einen Aufsatz zum Thema "Wie ich zur Literatur kam". Darin berichtete er von der extensiven Karl-May-Lektüre des Berliner Knaben aus katholischer Familie in der nationalsozialistischen Diktatur. "Das Kind blieb in der Diaspora allein, ein Katholik unter Protestanten, ein zum Nationalismus Unfähiger unter Nationalisten, ein Träumer unter Anpassern. Wie der asoziale Kleinbürger May beim Schreiben, reagierte das Kind beim Lesen sich Komplexe ab. May half ihm Isolierung ertragen, trug aber andererseits dazu bei, es tiefer in diese zu führen. Denn nie konnte es seine ausschließliche Liebe zu ihm mit jemandem teilen. Seine Landschaftsschilderungen langweilten, sein christliches Moralisieren wirkte lächerlich."

In diesen Sätzen steckt eine ganze Geschichte des deutschen Bildungsbürgertums in den Diktaturen des 20. Jahrhunderts: sein Widerständiges, das aber auch mit Verhuschtheit und Verhocktheit erkauft war. Der katholische Knabe mochte durch seine Leseleidenschaft vor der Ideologie der Nazis geschützt sein, doch die Gegenwelt war selbst trübe. "Was da an vulgarisiertem Nietzsche, an Kolonialideologie, an kleinbürgerlichem Ressentiment und bismarck-deutschem Nationalismus auch drinstecken mag - es scheint mich nicht infiziert, eher immunisiert zu haben gegen großdeutschen Nationalismus und brutalen Rassismus."

Mit solchen kühlen Feststellungen war 1972 zweierlei erreicht: Dem zeitgenössischen Leser wurde ein leicht zu entschlüsselndes Modell für eigenes Ausweichen gegeben, zugleich aber wurde diese Flucht selbst als ideologisch fragwürdig analysiert. Das war nicht nur ein Tribut an die offiziellen Wertungen, denen Karl May in der DDR selbstverständlich unterlag. Der Leser in der DDR erfuhr: Du kannst zwar ins Innere fliehen, aber du solltest schon aufpassen, wohin genau die Flucht geht. Denn nicht jeder bleibt bei der problematischen Schutzimpfung gesund, um dann viel, viel Besseres zu lesen.

Denn das tat Günter de Bruyn, und seine glücklichen Leser wissen das. Nach dem Mauerfall 1989 schloss er in zwei meisterhaften Memoirenbänden ("Zwischenbilanz", 1992, und "Vierzig Jahre", 1996) mit seinem Leben als Zeitgenosse des deutschen 20. Jahrhunderts ab. Der erste berichtete von der Jugend in Diktatur und Krieg der Nazis, der zweite vom Leben als Bibliothekar und Schriftsteller in der DDR. Seither macht de Bruyn seine Lesefluchten während dieser "Vierzig Jahre", in weitausgreifenden Bänden und zahllosen Miniaturen zur deutschen Literatur um 1800 fruchtbar. Er wurde dabei vor allem zu einem Neuerfinder einer spezifisch märkischen Geistestradition. Was vor 1989 aus der Not geboren war - "statt Israel oder Amerika zu bereisen, nahmen wir mit Jerichow in der Altmark oder Philadelphia bei Storkow vorlieb" -, wurde für die Neuhauptstädter seit 1999 zu neuen "Wanderungen in der Mark Brandenburg", zu einer leise nachdrücklichen Heimatkunde.

Darüber geriet etwas in Vergessenheit, was für ein kühner, interessanter Romancier de Bruyn vor 1989 gewesen war. Die Romane "Buridans Esel" (1968), "Preisverleihung" (1972) und "Märkische Forschungen" (1978) spielen zwar in einer untergegangenen Sphäre - der intellektuellen Funktionselite des kommunistischen Staats, der sich auch als Kulturstaat definierte -, doch dabei verhandeln sie mit enormem Witz immer noch exemplarische Themen von moralischer Selbstbehauptung. Wie ernst und real das war, zeigt der erst 2014 publizierte Briefwechsel, den de Bruyn 1982/83 mit einem damals 17 Jahre alten Kriegsdienstverweigerer führte. Der junge Oppositionelle heißt Stefan Berg und arbeitet heute als Spiegel-Redakteur, die Geschichte ging also gut aus - aber selbstverständlich war das nicht.

1980 folgte mit "Neue Herrlichkeit", der Geschichte einer Demenzerkrankung, eine beklemmende Abrechnung mit den Solidaritätspostulaten im Arbeiter- und Bauernstaat. Mit zarter Unerbittlichkeit nahm de Bruyn das Maß der Menschlichkeit - gilt sie auch für die Gebrechlichsten, für die Alten, die verdämmern? Der hellwache Günter de Bruyn, der an diesem Dienstag 90 Jahre alt wird und schon wieder ein gelehrtes Buch publiziert hat (über den Romantiker Zarachias Werner), stellt die Frage auch an uns.

© SZ vom 31.10.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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