Großformat:Jeder Schritt ein Strich

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Der Choreograf Marco Goecke verbringt täglich viele Stunden mit anderen. Wenn er alleine ist, steht er am liebsten am Zeichentisch. Dort entstand auch dieses Blatt: Er nennt es "Das gekämmte Gesicht".

Von Dorion Weickmann

Das Bild heißt "Das gekämmte Gesicht". Der Mann, der es gezeichnet hat, schreibt seine Botschaften für gewöhnlich in die Weite des Bühnenraums. Seine Instrumente sind tanzende Körper. Marco Goecke ist 46 Jahre alt und der eigenwilligste Choreograf in der deutschen Tanzlandschaft. Seine Werke sind von nervösem, fiebrigem Temperament. Über das Bild sagt er: "Es ist die Suche nach einem Gesicht, die Suche nach meinem Gesicht, nach dem von anderen. Tausend Schritte wie tausend Nerven, die man braucht, um überhaupt ein Gesicht zu haben, Millionen Nerven, die man braucht, um überhaupt Schritte zu machen. Jeder Schritt ist ein Strich. Jeder Schritt in einer Zeichnung ist hilflos. Etwas zusammenzukriegen, über das man, wenn es fertig ist, sich vielleicht drei Sekunden lang freut - drei Sekunden Freude nach Tausenden von Strichen! Aber das ist es - für einen Moment."

Das Flüchtige, Vergängliche ist Goeckes Element, Melancholie sein treuester Begleiter. Die Einsamkeit am Zeichentisch braucht er als Ausgleich für die choreografische Arbeit, für die vielen Stunden, die er mit anderen Menschen zubringt. Einerseits straff, andererseits zerfasert wirkt das asymmetrische Gesicht, das er hier zu Papier gebracht hat. Genauso sind auch seine Choreografien von absoluter Präzision und doch nie eindeutig zu fassen. Der irritierende Effekt hängt auch mit der Machart zusammen. Der Choreograf schaut selten frontal auf das, was während der Proben entsteht. Goecke steht im Ballettsaal am liebsten ganz hinten. Von dort aus hat er nur die Rücken der Tänzer im Blick. Ihre Gesichter sieht er im Spiegel, in diffuses Licht getaucht. Weil er Leuchtröhren hasst, setzt er bisweilen sogar im Studio eine Sonnenbrille auf. Damit die Welt so eingedunkelt bleibt, wie er sie meistens wahrnimmt. Als Choreograf, als Maler. Seine Farbe ist Schwarz-Weiß.

Das verbindet ihn auch mit Federico Fellinis Film "La Strada", den er am 12. Juli fürs Münchner Gärtnerplatztheater inszeniert. Ein Tanzabend, mit dem ein Kapitel seiner Karriere endet. Bis Ende der Spielzeit ist Marco Goecke noch Hauschoreograf des Stuttgarter Balletts, in einem Jahr übernimmt er das Staatsballett Hannover. Als Chef muss er sich neu erfinden, als Choreograf vielleicht auch. Gut möglich, dass ihm dann ein ganz anders "gekämmtes Gesicht" einfällt.

© SZ vom 30.06.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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