Großformat:Fiktive Forschung

Lesezeit: 1 min

Kniefälle, Frauen mit Blumen, Vulkanausbrüche: In Zeitungsfotos kehren dieselben Motive regelmäßig wieder. Die Künstlerin Anne Metzen sammelt diese Bilder für ihr Projekt "Standard Euro" seit 20 Jahren.

Von Jörg Häntzschel

Mitte der Neunzigerjahre fiel Anne Metzen beim Zeitunglesen etwas auf: Die Fotos ähnelten sich, die Motive kehrten immer wieder: Explosionen, Politiker, die Stimmzettel in Wahlurnen stecken, Politiker, die Tribünen verlassen, Trauernde, die Särge tragen, Gerangel in Parlamenten. Sie begann, die Bilder auszuschneiden und zu sammeln. Und zu ordnen, in Gruppen und Untergruppen. Und das tut sie für ihr Projekt "Euro Standard" jetzt seit fast 20 Jahren. Je mehr Bilder sie hatte, desto spezifischer wurde die Klassifizierung: Menschen mit Atemschutzmasken, Gasmasken, Staubmasken. Protestierende beim Marschieren, mit Transparenten, Protestierende, die nur dastehen.

Metzen ging es nicht um Medienkritik. Es ist ihr auch gar nicht wichtig, ob Säcke - ein anderes dieser wiederkehrenden Motive - Drogen oder Saatgut enthalten. Metzen interessiert sich für die formale Ähnlichkeit der szenischen Klischees, mit der Weltereignisse immer wieder illustriert werden. Und für den Witz von Wiederholung und Variation, etwa in den hier abgedruckten fünf Bildern von Angeklagten, die ihre Gesichter verstecken. Sie nennt sie "Die Unsichtbaren".

Doch das Sammeln und Archivieren der Bilder, das Aufkleben und Nummerieren, die "Ermittlung des freien Standards", wie sie es nennt, ist nur der erste Schritt ihres Workflows, den sie auf dieser Seite dargestellt hat. Im nächsten schafft sie aus den gesammelten Phänotypen den "Beleg". Mal ist das eine abstrahierte Version der Bilder, mal ein dreidimensionales Modell. Für sie, so Metzen, seien alle diese Bemühungen, die wuchernde Nachrichten-Ikonografie künstlerisch zu bezwingen, eine "Suche nach Gewissheit".

Und was könnte mehr Gewissheit bieten als Wissenschaft? Metzen, die eigentlich Bühnenbildnerin und Set-Designerin ist, hat für ihre 3000 Zeitungsbilder und die "Belege" ein bis ins Groteske übersteigertes Ordnungssystem entwickelt, samt von ihr selbst gefertigten Archivbehältern und Accessoires wie modifizierten Euro-Paletten und Tauen. Das "Regelwerk", das sie sich dafür auferlegt hat, umfasst 40 Seiten. Metzen, die schon immer ein Faible für die Ästhetik des Wissenschaftlichen hegte, hat sogar ihr eigenes Institut gegründet, das "Institut für fiktive Forschung".

© SZ vom 03.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: