Gothic-Szene:Moorhexe, selbst genäht

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Ein Tag beim Leipziger Wave-Gothic-Treffen: Jeder kreiert seinen eigenen Stil, der Powerpoint wirft neugotische Kirchenfenster an die Wand - normalerweise dringt kein Uneingeladener hierher vor.

Burkhard Müller

Der frühere Pressesprecher bleibt skeptisch. Dass der Novize keine knallharte Recherche treibe, versteht er - aber bloß einen einzigen Tag das WGT, das alljährliche Leipziger Wave-Gothic-Treffen, besuchen zu wollein Tag beim Leipziger Wave-Gothic-Treffen: en, das erscheint ihm doch für einen gänzlich Ahnungslosen allzu knapp bemessen.

Ob es auf diese Weise möglich wäre, das Wesen, den Spirit der Veranstaltung zu begreifen? Er ist höflich, fürchtet aber unverkennbar, dass bei diesem Gegenstand, der das Ressentiment anzieht wie die Motten das Licht, doch wieder nur das alte satanistische Klischee herauskommt.

Es ist die Frage des Tourismus überhaupt: ob wenig besser sein kann als gar nichts. Verneint man sie, schrumpft die Welt jäh zusammen. Jedenfalls bin ich dann doch nach Leipzig gefahren. Nicht allein allerdings, das hätte keinen Sinn bei einer Veranstaltung mit zwanzig- oder dreißigtausend Leuten, die zwei Dutzend große Schauplätze in der ganzen Stadt bespielt und deren ungezählte angekündigte Eigennamen mit strukturloser Fremdheit ins Ohr klingen.

Ich habe das Glück, mitgenommen zu werden, von einem Paar, das ich ein bisschen kenne und das der Szene schon lang angehört. Da ich mit ihnen zusammen bin, entgehe ich dem sonst wohl unausweichlichen Gefühl, in eine fremde Familienfeier hineinzuplatzen; mit Absicht heißt das Ganze "Treffen" und nicht Festival oder Event.

Denn dies ist der erste Eindruck: Wie sehr sich alle freuen, wieder einmal zusammenzukommen. Und ohne jemanden, der erklärt und den Blick leitet, sähe man einfach nicht; man bliebe im Anfangszustand stecken, beim Betreten des Pressezentrums, wo man sich seinen Ausweis abholt und in dessen Fluren es zappenduster ist.

Der Fehler des Neulings ist es, Verstehen mit ordnender Deutung gleichzusetzen. Was heißt es, wenn sich jemand ein Pentagramm um den Hals hängt? Je nachdem; womit er dieses Zeichen aus dem gemeinsamen Vorrat auflädt, ist in jedem Fall wichtiger als ein vorauszusetzender objektiver Gehalt.

Manche Insignien teilen tatsächlich eine klare Botschaft mit: Wer eine Gasmaske dabeihat, den darf man getrost der Unterszene des "Industrial" zurechnen (was es damit auf sich hat, werde ich erst später erfahren). Aber schon die Phantasieuniformen, ein breites Spektrum zwischen Sergeant Pepper und Raumschiff Orion, entziehen sich der Eindeutigkeit.

Was am meisten ins Auge fällt - die riesigen geflammten Irokesenfrisuren, die Elfenflügel, die kompliziert geführten Kettchen, von denen verschiedene Körperstellen miteinander verbunden werden wie von einem altertümlichen Telegrafensystem -, das neigt dazu, den geringsten Symbolwert zu bergen.

Auch muss durchaus nicht alles schwarz sein; aus diesem Untergrund bricht, wie Blumen aus dem Humus, eine reiche Palette von Purpur, Smaragd, Indigo, Pink hervor. Weiß hat gleichfalls seinen Ort, bis hin zu prachtvollen Hochzeitskleidern, die die Spurbreite eines Ehebetts haben: aber geisterhaft und am Rande, wie an der Holzkohle die ausgeglühte Asche.

Eine Teilnehmerin lässt sich gern über ihr Outfit befragen - schwere Schnürstiefel, lederner Minirock, um den Hals ein Nietenband - und erzählt, welchen Schreck sie damit ihrer Mutter eingejagt hat: Sie sehe ja aus, als wäre sie ins SM-Studio unterwegs. Lachend berichtet sie auch ihre Antwort: "O Mutti, da fehlt noch viel!"

Man sage nicht, dies sei bloß das Äußere, genau das eben, was dem Touristen ins Auge fällt. Der Wunsch, sich eine Fasson zu geben, das Vergnügen an der kompletten Veräußerlichung des eigenen Selbst ist hier stark und offenkundig. Mieder, im Verschärfungsfall bis über die Brust hochgeführt, sorgen für steile Haltung und eine sanfte Figur.

Ganz zur Puppe zu werden scheint besonders die Japaner mit Genugtuung zu erfüllen. Die allgegenwärtige freundliche Verständigung läuft übers Kleid: Man spricht einander darauf an, tut dem Anderen den Gefallen, ihn zu fotografieren, und es ist ein Kompliment, selbst als Motiv erbeten zu werden; niemand weigert sich.

Preiswerte Prachtentfaltung

Da der angestrebte Ausdruck so sehr im Kleid liegt, sind die WGT-Besucher eine ruhige Sorte von Leuten. Ein Paar sitzt am Nebentisch in der Leipziger Moritzbastei, sie erheben sich, er hilft ihr in den Mantel, sie nimmt die Hundekette zur Hand, die ihm am Hals festgemacht ist, und man bricht auf.

Wie ruhig das alles vonstatten geht, bemerkt man erst, wenn doch einmal ein paar Einzelne darunter sind, die das ungut Muntere ausstrahlen, wie Norddeutsche es an sich haben können. Schweigende Missbilligung umfängt den Stilbruch.

Ja, Stil; der ist das Stichwort. Erst nachdem man sich mehrere Stunden im Getümmel herumgetrieben hat, geht einem auf, was genau alle diese Leute sowohl unterscheidet als auch vereint: dass es hier durchaus jedem für sich auferlegt und niemandem erlassen ist, seinen Stil zu finden und zu formen. Vor Jahren hat Coca-Cola einen namhaften Betrag geboten, um als Sponsor aufzutreten.

Die Offerte der "Besatzerbrause" wies man empört zurück, jeder hatte das Gefühl: Dies wäre das Ende des WGT gewesen. "No Logo" bezeichnet hier keinen Schlachtruf von Attac, sondern an der Nähmaschine geübte Praxis. Meine Begleiterin hat ihren blauen Reifrock aus einem Posten alten Sitzbezugstoffs der Interflug hergestellt, acht Meter zu zwölf Euro; das Resultat ist beeindruckend. Nur so findet die Diskrepanz von Prachtentfaltung und den schmalen Budgets der jungen Ostdeutschen, die doch die Mehrheit der Anwesenden bilden, ihre Erklärung.

Am Ende eines langen Tages hat man gelernt, unter allen Skurrilitäten den Grundzug im Willen zur gänzlich unbrauchbaren Schönheit zu erkennen. Dies allein genügt schon, um selbst den weniger spektakulären Kostümen die Anmutung des Erotischen zu verleihen; sie umhüllt die Träger wie eine dünne Schicht Samt.

Hierin, und nicht in ihren diversen und oft konfusen historischen Zitaten, wurzelt (so kommt es wenigstens mir vor) die traditionalistische Eigenart der Szene. Man gewöhnt sich rasch daran, diesen höheren Standard wie einen allgemeinen am Werk zu sehen. Nach einem Tag auf dem WGT wirkt der gewöhnliche Leipziger, wie er einkauft oder seinen Hund ausführt, daneben zerknittert, farblos und generell vernachlässigt.

Was lässt sich zur Musik sagen, hier wie überall Herz der Subkultur? Für mich, wenig; das Gehörte schließt stärker aus als das Gesehene, dient offenbar auch stärker als die Kleidung der Binnendifferenzierung. Die Gruppe Amber liefert eine Ballade "von verwesender Liebe: Moorhexe oder Ich vermisse dich", na ja.

"O quam tristis" singt, während der Powerpoint neugotische Kirchenfenster an die Wand wirft, lateinische Choräle eigener Erfindung. Weitere Bands nennen sich Rosa Crux, Lacrimas profundere, Umbra et Imago - diese lateinischen Weihrauchkörner, die geheimnistuerisch und großspurig überall eingestreut werden, erscheinen mir als das suspekteste Element der Szene.

Nicht länger als zehn Minuten halte ich es in einem Konzert von Beinhaus aus, dessen extrem laute und monotone Industrial-Rhythmen ich nicht so sehr, wie ihnen vorgeworfen wird, als Gewaltverherrlichung, sondern als unmittelbar präsente Gewalt erlebe; ich schütze Brust und Magengrube mit den Armen, als spränge sonst das Herz aus seinem Takt.

Obwohl auch viele ganz Junge dabei sind, hat in der Szene unübersehbar die Alterung eingesetzt; der Durchschnitt der Teilnehmer mag bei Ende zwanzig liegen. Das ist ein positives Zeichen; denn es heißt, dass sie die Midlife-Crisis der Jugendbewegungen bereits hinter sich gebracht hat, die typischerweise zwischen dem 22. und dem 25. Lebensjahr einsetzt: dann nämlich, wenn sie ernsthaft ins Berufsleben eintreten. Eine Bankangestellte mit schwarz bemalten Lippen ist nicht gut vorstellbar.

Die schwarze Szene scheint zu reifen, indem sie sich nach innen kehrt, ins Haus, wohin kein Uneingeladener vordringt. Auf dem Leipziger Agra-Gelände gibt es einen riesigen Markt, den man mit nur geringer Ironie als ein Gothic Ikea bezeichnen darf, Schwärzer Wohnen für Fortgeschrittene.

Alles ist hier zu haben, was das Heim auch sonst so schmückt, nur eben farblich apart gehalten. Da trifft man auf den Schlaufenvorhang "Aragon", "geprägtes, aufgeworfenes Ornamentmuster, blickdicht, weich fallend, schwarz" (blickdicht ist wichtig), oder den Kerzenständer "Aristokrat" aus schwarzem Polyresin, auch auf das Sofakissen "Arabesque" sowie den Bilderrahmen "Unique", alles im Laden "Baroque noir", der seinen Namen gewiss nicht zu Unrecht führt.

Für ein "Black Christmas" werden schwarze Christbäume angeboten, mit einem Raben als Wipfelaufsatz. Wo ist hier die Demarkationslinie zum camp-haften Selbstzitat? Schwarz in Schwarz verläuft sie, dem Außenstehenden unsichtbar.

Auch ich erwerbe ein paar Souvenirs: einen schwarzen Eiskratzer mit der Aufschrift "Ich kratz ab" und eine Plätzchenausstechform mit dem Umriss des Sensenmannes. Das ist man sich als Tourist schon schuldig.

© SZ vom 7.6.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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