"On All Fours" von Goat Girl:Visionen über Apokalypse und die Flucht der Menschen

Lesezeit: 3 min

Plattenvertrag 2016 am Tag nach dem Brexit-Referendum unterschrieben: "Goat Girl" aus London. (Foto: Holly Whittaker/Rough Trade Records)

Über die vollfarbig vertrackte Science-Fiction-Pop-Symphonie "On All Fours" - und das staubige Label "Frauenband".

Von Joachim Hentschel

Als 1964 im Hamburger Star Club die Liverbirds spielten, vier Frauen mit Betonfrisuren und irrsinnig hoch hängenden Gitarren, als sich 1979 die Mitglieder des New-Wave-Trios The Slits halbnackt mit Schlamm einschmierten, um für eine Plattenhülle als Amazonenkriegerinnen zu posieren, als 1986 die Bangles mit ihrem Song "Walk Like An Egyptian" fast gleichzeitig in acht Ländern die Nummer eins waren - da hätte sicher kein Mensch geglaubt, dass man es selbst im Jahr 2021 noch jedes Mal registrieren und ausdrücklich dazusagen würde, wenn eine Rockband komplett oder zum größten Teil aus Frauen besteht.

Das Wort "Männerband" gibt es dagegen nicht mal. Höchstens vielleicht im Sinn von: eine Band, die vor allem Männer gern hören - aber was könnte das sein außer schwitztätowiertem Punk oder Dimpfelmoser-Rock? Über das englische Quartett Goat Girl, um das es hier gehen soll, gibt es jedenfalls viel interessantere Dinge zu erzählen, aber, nun ja, man kommt irgendwie nicht ganz drum herum. Also schnell und schmerzlos und für alle Zeiten: Goat Girl sind eine Frauenband. Zumindest fast. Rosy Jones am Schlagzeug hat sich kürzlich als non-binäre Person geoutet und sich damit dem muffigen Vokabular auf ewig entzogen.

"Aggression in allen Formen, Repressionen, Rassismus, Sexismus - genau dagegen kämpfen wir"

Dass das alles immer noch so ist mit den schrecklichen Zuschreibungen, kann man mit der großen, feuergeschweiften Theorie des Patriarchats vermutlich leicht erklären. Oder auch ganz banal: Weil die Manieren in einem vor allem von Männern begründeten Unterhaltungsuniversum unsere Blicke geformt haben, wird Frauen zwar instinktiv die Rolle der Entertainerin, Sängerin, Tänzerin zugetraut. Alle identitäts- und körperpolitischen Nachhilfestunden, alle feministisch motivierten Selbstbezichtigungen haben aber nichts daran geändert, dass viele immer noch mit leicht vergiftetem Respekt reagieren, sobald Künstlerinnen eher technisch operieren. Wenn Kabel und Strom im Spiel sind, wenn das Level an autarker Organisation erreicht wird, die das Prinzip Band voraussetzt.

Noch schlimmer wird es nur, wenn Analytiker dann anfangen, in der Musik selbst das typisch Weibliche zu suchen. Und dabei meist den elfenhaften Zug finden, das Buschwindige, die ozeanische Poesie oder andere Dinge, die auf Klaus Theweleits schwarzer Liste stehen. Im Fall von Goat Girl liegt solcher Blödsinn leider besonders nahe.

Tendenziell verträumt und fluide, klangverliebt, experimentell, außerirdisch: "On All Fours" von "Goat Girl". (Foto: Rough Trade Records)

Die vier sind schließlich Anfang 20, also potenziell jung und wütend, politisch stark involviert, sitzen im derzeit so finsteren London, haben ihren Plattenvertrag 2016 am Tag nach dem Brexit-Referendum unterschrieben - und trotzdem klingt ihr neues, übrigens durch und durch fantastisches Album "On All Fours" tendenziell verträumt und fluide, klangverliebt, experimentell, außerirdisch. Wie, zum Teufel, passt das zusammen?

Das kann doch nur diese unerträgliche Leichtigkeit sein, vermuten gendertechnisch kurz Angebundene, mit der Künstlerinnen indirekt die Aggression ausdrücken, die männliche Künstler rausbrüllen und wegdengeln, gell?

"Aggressive Musik wäre für uns ein Widerspruch in sich", sagt Bassistin Ellie Rose Davies beim Zoom-Gespräch. "Aggression in allen Formen, Repressionen, Rassismus, Sexismus - genau dagegen kämpfen wir ja." Ein femininer Duktus? "Natürlich sind solche Stereotypen langweilig und dumm", sagt Sängerin und Hauptautorin Lottie Pendlebury, "aber ein bisschen was ist dran. Weil weibliche Stimmen historisch lange überbrüllt wurden, haben sie andere Formen des Ausdrucks entwickelt."

Die Band entstand 2013 aus einer Freundesclique, schrieb die ersten Songs für Auftritte bei Open-Mic-Abenden in Süd-London. Und benannte sich nach der Figur Goat Boy, die der notorische Komiker Bill Hicks ab und zu spielte: die extrem eklige Sexfantasie eines Kerls, der sich als menschlicher Ziegenbock imaginiert und auf der Straße Teenager anquatscht.

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An ihm und allem, wofür er steht, nehmen sie seither gehörnte Rache - zunächst 2018 mit dem ersten Album, das in Liebhabermedien von Guardian bis Pitchfork gefeiert wurde. "On All Fours", die neue Platte, ist jetzt die Krönung. Eine vollfarbig vertrackte Pop-Symphonie, wie man sie im seit Jahren stinklangweiligen Indie-Gitarrengenre nur in seltensten Vollmondnächten noch zu hören kriegt. Aber eben nicht frischwärts, rotzig oder, nun ja, blökend, sondern in einer Art von hochinspirierter Lethargie, in der das Abschweifende, nicht unmittelbar Zielgerichtete fest zum Konzept gehört. Goat Girl arbeiten zwar in der typischen Beatkeller-Besetzung, biegen den Song dann aber immer irgendwie in andere Richtungen, vom elegischen Britpop hin zum fiependen Minimalismus, afrikanischen Swing, House-Music-Puls. Dass hier irgendwas nicht ganz stimmt, merkt man beim Hören oft erst, wenn man längst bezirzt und verloren ist, in den Chorgesangswolken oder irren Echos.

"The people wouldn't listen", singt Lottie Pendlebury, in ihrem typischen Ton zwischen Ennui und Am-Ohr-Knabberei, "they were singing question songs." Die Zeile stammt aus "The Crack", einer Vision über Apokalypse und die Flucht der Menschen in den Weltraum, und man fragt sich, ob Goat Girl mit ihrem intuitiven, fremd-vertraut schillernden Kunstansatz diesen "question songs" vielleicht ein paar angemessen abgefahrene Antwortlieder entgegenhalten können. "Die Probleme der Gegenwart lassen sich in fiktionalen Welten ja oft besser benennen und festmachen", sagt Pendlebury, die zuletzt vom Zukunftsroman "Die Parabel vom Sämann" der schwarzen Autorin Octavia E. Butler begeistert war. "Man gerät weniger in Gefahr, nur das nachzuerzählen, was eh schon alle sehen und wissen."

Dass Frauen tendenziell besseren, mutiger assoziierenden Science-Fiction-Pop machen als Männer, zumindest dieses erfrischende Genderklischee können wir einfach mal so stehenlassen.

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