Gezerre um NS-Raubkunst:Die Eine-Million-Euro-Geige

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Im Streit um die Guarneri-Geige stellt die zuständige Stiftung endlich 100 000 Euro als Entschädigung bereit. Tatsächlich könnte das Instrument aber "das Zehnfache" wert sein.

Von Jörg Häntzschel

Deutschlands Verfahren zur Restitution von während der NS-Zeit geraubter Kunst war immer umstritten, und nicht nur wegen seiner Ineffizienz: Nur in rund zwei Dutzend Fällen hat die "Beratende Kommission" seit 2003 ein Votum ausgesprochen. Doch vor einigen Wochen stand das System kurz vor dem Scheitern. Die Kommission hatte Jahre zuvor entschieden, dass es sich bei einer Guarneri-Geige der Nürnberger Hagemann-Stiftung um Raubkunst handelt. Die Stiftung, die bei der Nürnberger Musikhochschule angesiedelt ist, sollte die Geige zwar behalten dürfen, den Nachfahren des jüdischen Vorbesitzers aber 100 000 Euro als Entschädigung bezahlen. Nach jahrelangem Hinhalten erklärte die Stiftung im Dezember, sie halte die Raubkunst-Einschätzung der Kommission für falsch und werde aus dem Verfahren aussteigen. Es war das erste Mal, dass eine Partei, die die Kommission angerufen hatte, deren Votum rundheraus ablehnte. Die Kommission, die lediglich Empfehlungen aussprechen kann, aber über keinerlei Sanktionen verfügt, war in all ihrer Machtlosigkeit vorgeführt.

Deshalb griff der Vorsitzende der Kommission, der ehemalige Verfassungsgerichtspräsident Hans-Jürgen Papier, zum letzten Druckmittel: die Öffentlichkeit. Und das wirkte, wie sich jetzt zeigt. Die Empörung, die die Berichte über das Verhalten der Stiftung auch international auslösten, ließen die Stiftung erst ihre Ankündigung zurücknehmen, die 100 000 Euro nicht zu bezahlen. Dann trat der gesamte Vorstand ab. Die neuen Vorstandsmitglieder haben sich nun in einem Schreiben für das Agieren ihrer Vorgänger entschuldigt und versprochen, die Erben zu entschädigen.

Die Stiftung wird dabei wohl erheblich mehr zahlen müssen. Christoph Adt nämlich, der Präsident der Nürnberger Musikhochschule und eines der früheren Vorstandsmitglieder, hatte in einem Gespräch mit der SZ im Januar beiläufig erwähnt, die Geige sei in Wahrheit nicht 100 000 Euro, sondern "das Zehnfache" wert. Für die Nachfahren des Vorbesitzers können deshalb die 100 000 Euro Entschädigung keine "faire und gerechte Lösung" mehr sein, wie sie die Washingtoner Erklärung für Restitution von NS-Raubkunst vorsieht. Sie verlangen eine neue Schätzung und die umgehende Überweisung der 100 000 Euro auf ein Treuhandkonto. Dem haben die neuen Vorstände zugestimmt.

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