Geschichtspolitik:Keine DDR-Reliquien

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1990 erzwangen Bürgerrechtler die Einrichtung der von Kanzler Kohl wenig geliebten Stasiunterlagenbehörde - nun wird wieder einmal über ihre Zukunft gestritten.

Von Franziska Augstein

Die Stasiunterlagenbehörde war im Deutschen Einigungsvertrag nicht vorgesehen. Der Kanzler Helmut Kohl und sein Innenminister Wolfgang Schäuble hielten die Stasi-Akten für einen potenziellen Quell der Zwietracht. Kohl sagte damals, er "wüsste schon", was er mit den Akten machen würde. Schäuble sprach es aus: sie unbesehen vernichten, einbetonieren. Der ostdeutsche Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer schwärmte von einem "großen Freudenfeuer", was ihm bis heute nachgetragen wird.

Die DDR-Bürgerrechtler wollten die Akten erhalten: Jeder sollte sehen können, was ihm angetan wurde, und wer Schuld auf sich geladen hatte. 1990 veranstalteten prominente DDR-Dissidenten einen Hungerstreik zur Rettung der Akten. Der SZ sind Wohlmeinende bekannt, die damals heimlich Lebensmittel an die Stätte der Selbstkasteiung brachten. Der "Hungerstreik" hatte Erfolg. Eine Behörde wurde eingerichtet. An das Genus ihres Namens können selbst Ämter sich nicht gewöhnen. Die Behörde (weiblich) heißt: Der Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (männlich). Der BStU, so das Kürzel, hat seine Aufgabe angemessen erfüllt. Deutschlands Umgang mit den Stasi-Akten gilt weltweit als vorbildlich. Nun, ein Vierteljahrhundert später, stellt sich die Frage: Wie geht es weiter? Dazu gab es am 27. April im Bundestag eine öffentliche Anhörung.

Es ist die vornehmste Aufgabe, den Ausgespitzelten Einblick in die Akten zu ermöglichen

Als die Behörde Ende 1991 eingerichtet wurde, war in Berlin vieles möglich: unangemeldete Diskotheken, Hausbesetzungen, wilde Schreberhütten mitten in der Stadt, gelegentliches Niedermachen lästiger Verkehrsampeln. Eigenwilligkeit brach sich auch insoweit Bahn, als der BStU ein Novum war: Üblicherweise untersteht solch eine Oberbehörde ministerieller Aufsicht. Darauf wurde beim BStU verzichtet: Joachim Gauck sollte sein Amt vollkommen unabhängig versehen. Ihm, dem Rhetoriker, wurde der Verwaltungsfachmann Hansjörg Geiger zur Seite gestellt. Der brachte System in den BStU, sorgte dafür, dass der Laden lief. Der Historiker Klaus-Dietmar Henke, der die Forschungsabteilung aufbaute, konstatiert, die beiden hätten wie ein Zweikomponentenkleber funktioniert: "Nur gemeinsam" waren sie stark.

Anfangs hatte der BStU es schwer: Bundespolitiker hielten die Behörde für ein störendes Element im Getriebe; Bürgerrechtler fanden, weil es sich um "ihre" Akten handle, dürften sie diese quasi als Privatgut betrachten. Einige, die in der Behörde arbeiteten, suchten auf eigene Faust Unterlagen heraus, die sie den Medien zuspielten - sei es aus politischer Entrüstung, sei es aus Wichtigtuerei. Weil das Insiderwissen ehemaliger Angehöriger des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) benötigt wurde, um besonders intrikate Fragen zu klären, waren einige solcher Leute beim BStU beschäftigt. Deren Beamtengeist, so Hansjörg Geiger zur SZ, sei nun nützlich gewesen: Sie halfen, die Akten vor illegalem Zugriff zu schützen.

Sinn und Existenz der Behörde leuchteten dem Kanzler erst dann ganz ein, als der BStU 1994 Stasi-Pläne für "Isolierungslager" aufdeckte: Kohl rief Gauck an und lobte ihn. Bis heute ist es die erste und vornehmste Aufgabe des BStU gewesen, allen Ausgespitzelten Einsicht in ihre Akten zu verschaffen. Jetzt, ein Vierteljahrhundert später, sieht die Lage anders aus. Zum einen sind es nun eher die Generationen der Kinder und Enkel, die sich für das Schicksal ihrer nächsten Verwandten interessieren (was die Frage aufwirft, inwieweit das Privatleben ihrer Altvorderen die Nachfahren eigentlich etwas angeht; die Stasi installierte Mikrofone bekanntlich auch in Schlafzimmern).

Zum anderen können Betroffene sich bis zu hundert Seiten Akten unentgeltlich zuschicken lassen. Richard Schröder, stellvertretender Leiter der "Experten-Kommission", die auf Weisung des Bundestags Vorschläge für die Zukunft des BStU ausgearbeitet hat, bemerkte anlässlich der Anhörung am 27. April: "97 Prozent der Antragsteller nehmen das wahr. Es kommt praktisch niemand mehr in die Einrichtungen."

Schröder meinte Berlin und die zwölf Außenstellen des BStU. Hansjörg Geiger, der seinerzeit dafür eintrat, dass Gauck nicht beaufsichtigt werde, hält die Zeit für reif, das zu ändern: "Die unkontrollierte Sonderstellung des BStU", sagt er im Gespräch, müsse revidiert werden. So sehen das viele, weshalb seit Jahren davon geredet wird, die Akten in das Bundesarchiv zu überführen und die Rolle des Bundesbeauftragten zu modifizieren. Noch unter der großen Koalition von CDU/CSU-Union und SPD wurde 2008 beschlossen, eine Kommission einzusetzen, die Vorschläge für die Zukunft machen sollte. Die folgende Koalition von Union und FDP kümmerte sich nicht. Erst 2014, nachdem abermals eine große Koalition die Regierung übernommen hatte, wurde endlich eine Experten-Kommission einberufen. Die CDU/CSU ernannte sieben Mitglieder, die SPD fünf, die Linke und die Grünen je eines.

Mit dem in der Legislaturperiode 2009 bis 2013 offenkundig gewordenen Desinteresse von Politikern am Umgang mit der DDR-Geschichte und der damit verbundenen Ignoranz geht einher, dass viele Abgeordnete, wenn sie denn etwas entscheiden müssen, zu Jasagern werden, weil sie bei keiner lautstarken Interessengruppe anecken wollen. "Auf diesem in Deutschland besonders sensiblen Feld", schreibt der Historiker Henke, seien Politiker "allzu leicht zu verunsichern".

Die Vorschläge der Kommission bestehen im Kern aus drei Punkten: erstens, die Akten bleiben in ihrem Berliner Stammsitz, der Normannenstraße, werden aber - bei Beibehaltung aller Besonderheiten, wie sie beim BStU praktiziert werden - dem Bundesarchiv zugeschlagen. Das hätte unter anderem den Vorzug, dass der BStU keine eigenen Archivare mehr bräuchte.

Anstelle von zwölf Außenstellen soll es künftig nur noch fünf geben, eine in jedem der fünf Neuen Bundesländer.

"Sondergeschichtsschreibung" für die DDR sei nicht nötig, sagt Wolfgang Böhmer

Zum Zweiten soll die Rolle des Bundesbeauftragten neu bestimmt werden. Die Kommission schlägt vor, das Amt umzugestalten. Die Arbeitsbeschreibung: "Ansprechpartner/in bzw. Ombudsperson für Opfer der kommunistischen Diktatur und Betroffene". Diese Formulierung ist zugeschnitten auf den jetzigen Behördenleiter Roland Jahn. Er hat in den rund fünf Jahren seiner Tätigkeit bewiesen, dass er - wie zu DDR-Zeiten - ein eigenständiger Kopf ist, dass er außerdem ein gutes Sprachrohr für Opfer der Stasi und als Behördenleiter ungeeignet ist. Der SZ kamen in vertraulichen Gesprächen mit Kennern des BStU zahlreiche Beschwerden über Jahn zu Ohren. Auch der Bundesrechnungshof fand einmal Anlass, seine Amtsführung zu kritisieren. Zum Dritten soll die "Wissenschaftliche Forschung" in einer "selbständigen ,Forschungsstelle DDR-Staatssicherheit in vergleichender Perspektive'" fortgeführt werden. Unklar ist, warum so eine Parallelinstitution nötig sein soll. Wozu gibt es Universitäten?

An den Universitäten wird die DDR-Geschichte im Rahmen der Zeitgeschichte behandelt. Eigene DDR-Lehrstühle gibt es nicht. Wolfgang Böhmer, der Vorsitzende der Experten-Kommission, hält das für richtig. Bis 2011 war der CDU-Politiker Ministerpräsident in Sachsen-Anhalt. Bei der Anhörung am 27. April machte er seine Haltung anhand eines Beispiels klar: In der Welt der Philatelisten, der Briefmarkensammler, sei die DDR der BRD längst zugeschlagen. Bezogen auf die Stasi-Akten sagte Böhmer: "Die Akten sind keine Reliquien der DDR." Und: "Eine Sondergeschichtsschreibung" für die DDR sei nicht nötig. Auf die "wiedergewonnene Freiheit" komme es an, nicht auf die Akten.

Diese Worte konnten bei den Vertretern der Opferverbände, bei den Vertretern von Gedenkstätten und anderen Interessierten nicht gut ankommen. Sie feiern den Erhalt der Akten als "Symbol". In ihren Augen soll alles mehr oder minder so bleiben, wie es ist. Das zeigten ihre Stellungnahmen. Die Vertreterin der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Anna Kaminsky, sagte: "Wesentliche Aufgaben" des neu geplanten Ombudsmanns anstelle des Behördenleiters zählten "bereits zum gesetzlichen Auftrag der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur". Das klingt, als habe Frau Kaminsky vor allem die Zukunft ihrer Stiftung im Auge. Ein Vertreter der Robert-Havemann-Stiftung erklärte, die Havemann-Stiftung könne viel mehr Aufgaben übernehmen, als sie derzeit habe. Tobias Hollitzer, Leiter der Leipziger "Gedenkstätte Museum in der ,Runden Ecke'" betonte, es komme darauf an, "Aufgaben und Zuständigkeiten" in die "schon bestehende Aufarbeitungslandschaft" zu verteilen. Hubertus Knabe von der Gedenkstätte Hohenschönhausen tat auch sein Bestes, seine Institution herauszustellen.

Alle wollen Geld. Aber von Geld war bei der Anhörung nicht die Rede. Dabei ist Vergangenheitsaufarbeitung durchaus teuer. Seit 1993 werden die Kosten des BStU präzise im Staatshaushalt verbucht: 1993 verbrauchte er fast 192 Millionen Mark. 2013 waren es etwas mehr als 98 Millionen Euro. Konservativ gerechnet, hat die Behörde in den bald 24 Jahren ihrer Existenz seit 1992 an die zweieinhalb Milliarden Euro verschlungen.

Den größten politischen Einfluss unter den Lobbyisten in Sachen BStU hat wohl der CDU-Politiker Dieter Dombrowski. Er ist Vizepräsident des Brandenburgischen Landtags und Vorsitzender der "Union der Opfer stalinistischer Gewaltherrschaft", auch der Bund der Vertriebenen zählt dazu. Die Experten-Kommission hat Dombrowski nach seiner Meinung gefragt. Am 14. Januar dieses Jahres fasste er sie in einem Brief an die Kommission zusammen, der der SZ vorliegt: "Eine Übernahme der Bestände in das Bundesarchiv" hielt er für vernünftig, sofern Dinge, die ohnedies in Vorschlag stehen, beachtet würden. Was den Bundesbeauftragten angeht, schrieb er, dieser solle "von seinen administrativen Aufgaben entlastet werden". Stattdessen solle er "für die Wirkungen und Folgen der gesamten kommunistischen Diktatur sprechen".

"Wenn man weiß, was man will, dann geht alles relativ schnell."

Bei der Anhörung am 27. April sagte Dombrowski dann aber das Gegenteil. Auch er plädierte nun dafür, möglichst wenig zu ändern. Die Experten-Kommission fühlte sich auf den Arm genommen. Erklärlich wäre Dombrowskis abrupter Sinneswandel nur damit, dass er den Anleitungen folgte, die sich nach Absendung seines Briefes vom Januar bei einer Sitzung seiner Organisation ergaben. Einmal davon abgesehen, dass die Aufarbeitung der DDR-Geschichte vielen Menschen Pfründen verschafft hat, die sie nicht verlieren wollen, droht eines zu kurz zu kommen: die Erinnerung an den Nationalsozialismus. Das Wort von den "zwei Diktaturen" nivelliert die großen Unterschiede zwischen dem NS-Regime, das 50 Millionen Tote zu verantworten hat, und dem DDR-Regime, das auf Morden nicht aus war. Der Historiker Henke macht sich Sorgen: "Die DDR-Erinnerungslandschaft", sagt er, "ist märchenhaft alimentiert." Erinnerungspolitischer Lobbyismus macht's möglich. Hingegen seien nur noch wenige am Leben, "die von der NS-Zeit erzählen können". In einem Aufsatz schrieb er: "Eine intellektuell und finanziell bequemlich ausbalancierte Erinnerung an zwei Diktaturen in Deutschland ist nicht statthaft."

Die Anhörung am 27. April endete in Ermüdung. Umso erfreulicher ist die private Information, dass die Regierungsfraktionen in Bälde ein "Eckpunktepapier" erstellen wollen. Noch vor der Sommerpause soll im Bundestag eine Grundsatzentscheidung gefällt werden: Kommen die Akten ins Bundesarchiv? Was wird aus dem BStU und im Besonderen aus seinem derzeitigen Leiter Roland Jahn? Richard Schröder, der nimmermüde Vize der Experten-Kommission, sagt: "Wenn man weiß, was man will, dann geht alles relativ schnell."

© SZ vom 11.05.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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