Geschichtspolitik:Kein Frieden in Danzig

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Vor ein paar Jahren begannen Versuche, polnische und russische Historiker zusammenzubringen. Doch jetzt lässt ein erbitterter Kongress zweifeln, ob die Minenfelder überhaupt noch zu entschärfen sind.

Von Florian Hassel

Sind es hoffnungslose Fälle, denen sich der Pole Sławomir Dębski und der Russe Michail Narinskij verschrieben haben? Seit Moskau und Warschau vor Jahren einen Neuanfang in ihrem Verhältnis versuchten, arbeiten die beiden daran, Minenfelder der gemeinsamen Geschichte zu räumen. Davon gibt es reichlich: den Polnisch-Sowjetischen Krieg 1919-21. Die Aufteilung Polens im Hitler-Stalin-Pakt. Die Ermordung von fast 22 000 polnischen Offizieren und Führungskräften in Katyń und anderswo. Die Verschleppung Tausender Polen in sibirische Arbeitslager.

Ab 2008 trafen sich Narisnkij, Dębski und andere Historiker der treffend getauften "Kommission für schwierige Fragen" regelmäßig in Warschau oder Moskau. Sie gründeten zwei Zentren für russisch-polnischen "Dialog und Verständigung". Ende 2010 legten sie den bahnbrechenden Band "Weiße Flecken, schwarze Flecken" vor: Darin schrieben je ein Russe und ein Pole über den Einmarsch der Roten Armee in Polen zu Beginn des Zweiten Weltkrieges, über Katyń oder über Moskaus Beteiligung an der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981.

Das letzte Buch, das letzte Treffen liegen eine Weile zurück. Zuletzt traf sich die "Kommission für schwierige Fragen" im Dezember 2012 in Moskau. Danach erlahmte der Eifer, besetzte Russland Anfang 2014 die Krim und organisierte den Konflikt im Osten der Ukraine. "Auch Historiker arbeiten nicht im Vakuum. Wegen der Spannungen in der Ukraine haben wir weitere Treffen bis zu ruhigeren Zeiten eingefroren", sagt Dębski. Kollege Narinskij sekundiert: "Früher haben wir unsere Konferenzen mit einer gemeinsamen Erklärung beendet. Das ist jetzt schwer vorstellbar."

Auf einem Umweg aber gehen die Kontakte weiter. 2008 regte Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier einen Historiker-Dialog zwischen Russland, Polen und Deutschland an; daraufhin trafen sich Spezialisten der drei Länder, auch im Dreierformat. Vergangene Woche lebte der Austausch in Danzig wieder auf: Zu einem Kongress kamen neben Historikerstars wie Timothy Snyder oder Norman Davies, deutschen und polnischen Spezialisten auch Russen wie Narinskij, Geschichtsprofessor am Moskauer MGIMO, der Kaderschmiede des russischen Außenministeriums.

Schon vor Beginn gab es einen handfesten Skandal. Am 1. März ehrte Polen die Kämpfer seiner "Heimatarmee", die im Zweiten Weltkrieg im Untergrund nicht nur gegen Wehrmacht und SS, sondern auch gegen die Rote Armee kämpfte. Zwei Tage zuvor veröffentlichte Andrej Artisow, Chef des Russischen Staatsarchivs und Vorsitzender des Moskauer Zentrums für den russisch-polnischen Dialog, Dokumente und klagte an: Die Polen hätten damals Tausende Soldaten der Roten Armee bei "Terrorakten" getötet. Die Untergrundkämpfer seien "als Mittäter der Nazis aufgetreten und haben die Zerschlagung des faschistischen Deutschland behindert".

Artisow ließ keinen Zweifel daran, warum die Dokumente gerade jetzt veröffentlicht wurden: weil Warschau Moskau nicht die gebührende Ehre für die Befreiung von Auschwitz durch die Rote Armee gebe, und weil Polens Präsident Komorowski den Historikerkongress in Danzig und ein Treffen mit anderen Staatsoberhäuptern Osteuropas zur Gegenveranstaltung zur Moskauer Siegesfeier am 9. Mai mache. Warschau blieb die Antwort nicht schuldig. Polens Institut für nationale Erinnerung nannte die Auswahl der publizierten Dokumente tendenziös und wies darauf hin, dass Moskau Vorgeschichte und Hintergrund - vom Hitler-Stalin-Pakt bis zu Morden und Deportationen an polnischen Soldaten durch die Rote Armee -weggelassen habe.

Auch auf dem Kongress in Danzig wurde rhetorisch weitergekämpft. Die Polen hatten im Kongresszentrum auch eine Ausstellung zum 70. Jahrestags des Kriegsendes aufgebaut - die soll später im in Danzig geplanten "Museum des Zweiten Weltkrieges" zu sehen sein. Ein Museum, das Direktor Paweł Machcewicz zufolge nicht nur die unbestrittene Leistung der Roten Armee oder eine Million Hungertote in Leningrad bei der Belagerung durch die Deutschen darstellen wird, sondern eben auch Verbrechen von Stalins Roter Armee.

So sahen die Historiker auch eine im Zweiten Weltkrieg von einem sowjetischen Soldaten aus Metall zusammengebaute Darstellung eines Mannes, der eine Frau von hinten nimmt: Die Museumsleute nahmen so das Thema der Massenvergewaltigungen von deutschen, aber auch polnischen Frauen durch Soldaten der Roten Armee auf. Westliche Historiker schätzen, dass allein in Ostpreußen damals bis zu 1,2 Millionen Frauen vergewaltigt wurden. Davon will Alexander Nikonow, aus Moskau angereister Direktor des Museums der russischen Streitkräfte, nichts wissen. Massenhafte, ungestrafte Vergewaltigungen seien "eine Lüge. Dies waren Einzelfälle. Ich habe viele Dokumente gesehen - Vergewaltigung wurde streng bestraft, bis hin zur Todesstrafe."

Später stritt die Kongress auch darüber, ob die Vertreibung der Wehrmacht und SS aus Polen durch die Rote Armee für die Polen eine Befreiung war oder nicht. "Es war keine Befreiung - die Sowjetunion hat damals die Kontrolle über uns Polen übernommen", wetterte ein Vertreter der Veteranen der polnischen Untergrundarmee. Doch Museumsdirektor Machcewicz erinnerte daran, dass "ohne die Rote Armee und ihr Zerschlagen des NS-Regimes in Polen das physische Überleben des gesamten polnischen Volkes in Gefahr gewesen wäre". Der Kampf um die richtige Erinnerung geht weiter. Der Bürgermeister des polnischen Örtchens Pienięźno regt an, ein Denkmal des sowjetischen Weltkriegsgenerals Iwan Tschernjachowskij zu entfernen. Ein Vorschlag, der Museumsdirektor Nikonow erzürnt. "Wenn Polen tatsächlich unsere Denkmäler abräumt, kann der nächste Schritt ein Vorgehen gegen polnische Denkmäler in Russland sein. Das wollen wir nicht."

Inmitten der Konfrontation versuchen die Historiker weiterzuarbeiten - etwa an vier Dokumentenbänden zur russisch-polnischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der brisanteste Band, für die Jahre 1939-45, wird von Natalja Lebedewa betreut, in Moskau Autorin einer Studie zu den Verbrechen von Katyń. Der Dokumentenband hätte längst erscheinen können, sagt Lebedewa, "aber ich warte darauf, dass mir in Moskau wichtige Dokumente freigegeben werden". Lebedewa wartet seit einem halben Jahr - wie lange noch, weiß sie nicht.

© SZ vom 13.05.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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