Geschichte:Papa, der Kommerzienrat, und seine verfettete Frau

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Ein voluminöser Band erzählt sehr kurzweilig, wie Bayern in der Prinzregentenzeit an staatlichen Titeln verdiente.

Von Rudolf Neumaier

Für diese Sorte Großkopferte greift der Wutdichter Ludwig Thoma besonders tief in seinen Verunglimpfungskübel: "Die feine Familie" besteht für ihn aus Papa, dem Kommerzienrat, seiner verfetteten Frau und zwei Kindern: der Sohn ein aufgeblasener Depp, die Tochter "hat jetzt schon ein Doppelkinn". Der Kommerzienrat ist in Thomas Gedicht aus dem Jahr 1913 eine Witzfigur, stinkreich und stinkfaul. Die Zeitung Organ für alle Gesellschaftsklassen prangerte die Titelsucht an, die wie eine Epidemie grassiere: "Es wird die Ernennung von Kommerzienräten in München schon bald zum Gespötte: Gestern war der Herr N. N. noch frisch und g'sund, heut ist er schon Kommerzienrat." Die eigene Wirtschaftselite war zum Sticheln freigegeben. Ein Zeitalter ging zu Ende in Bayern.

Kommerzienrat - das Wort klingt heute nach Operetten-Trottel. So gesehen erstaunt schon allein der Umfang des Drei-Kilo-Wälzers, den ein Team von zwei Dutzend Autoren um die Augsburger Landeshistorikerin Marita Krauss verfasst hat. 850 Seiten über "Die bayerischen Kommerzienräte"? Ein kühnes Projekt, ähnlich speziell wären Schmöker über bayerische Dompröpste oder über Matheprofessoren. Womöglich sind sie bereits in Arbeit, wer weiß, jedenfalls wäre es bei solchen Vorhaben unbedingt angebracht, sich an dem Opus von Marita Krauss zu orientieren. Es überrascht durch Tiefgang, sehr kurzweilig geschriebene Beiträge und durch mitunter außergewöhnliche Lebensgeschichten der ausgezeichneten Unternehmer.

Arthur Schopenhauer bezeichnete das Verleihen von Titeln als "billiges Zahlungsmittel des Staates". Wer im Bayern des 19. Jahrhunderts einen Titel begehrte, musste entweder in eine Adelsfamilie geboren sein oder auf den Karriereleitern der Universitäten, des Militärs, der Kirche oder der Staatsverwaltung höchste Stufen erklimmen. Für Unternehmer war das schwierig. In Preußen gab es für sie den Titel des Kommerzienrates bereits seit 1807. Erst 73 Jahre später führte Ludwig II. ihn in Bayern ein. Im August 1880 beförderte der König 22 Wirtschaftsbosse zu königlich-bayerischen Kommerzienräten. Er ließ die mächtigsten aussuchen, um dem neuen Titel Gewicht zu verleihen. Der Historiker Karl-Maria Haertle merkt scharfsinnig an, es falle "angesichts der chronischen Finanzprobleme des Königs auf, dass sich unter den ersten Kommerzienräten immerhin fünf Bankiers befanden".

Eine gewisse Freigebigkeit gehörte zu den wichtigsten Bedingungen, die ein Titelanwärter zu erfüllen hatte. In mehreren Instanzen wurde geprüft, ob es sich um ehrbare Kaufleute und überdurchschnittlich wohlhabende Steuerzahler handelte, die ihre eigene Belegschaft fair behandelten und der Wohlfahrt des Gemeinwesens dienten. Bis 1911 entschied das Staatsoberhaupt selbst über Ernennungen. Zwischen 1880 und 1928 wurden in Bayern 1849 Männer und eine Frau, die Nähmaschinenfabrikantin Lina Pfaff aus der bayerischen Pfalz, zu Kommerzienräten ernannt.

Kommerzienräte wurden in der Provinz wie Könige verehrt

Die Weimarer Verfassung untersagte das Verleihen von Ehrentiteln, allerdings setzte sich Bayern darüber hinweg, indem es den Begriff "Kommerzienrat" zu einer Berufsbezeichnung erklärte. Das Vergeben staatlicher Titel wurde als lukratives Geschäft erkannt: Haertle zitiert aus Schreiben, wonach Verleihungen "der gemeinnützigen Vertretung öffentlich-wirtschaftlicher Interessen" dienten. Entsprechend inflationär ließ im Jahr 1924 der Ministerrat Verleihungsurkunden ausstellen. Noch im 19. Jahrhundert hatte es jährlich nie mehr als 30 Kommerzienräte gegeben, nun waren es 212. Es sagt viel über die Eitelkeit von Kommerzienräten und das Ansehen des Titels aus, dass riesige Geldsummen flossen, um die Auszeichnung zu erlangen. Sie hatte zwar keinerlei politische Bedeutung, bildete wegen der strengen Auswahlkriterien jedoch den Nachweis eines ehrbaren Lebenswandels und unternehmerischen Könnens.

Draußen in der Provinz wurden Kommerzienräte wie lokale Könige verehrt, wenn sie das Volk an ihrem Reichtum teilhaben ließen. Dem Textilunternehmer Waldemar von Bippen, den die vorwiegend in seinem Betrieb arbeitenden Dorfbewohner als "lieben Gott von Kolbermoor" verehrten, bescheinigt Haertle "absolutistische Tendenzen": Wer nach Kolbermoor ziehen durfte, entschied der Patriarch. Der Bürgermeister, der zugleich als Bader des Ortes fungierte, hatte Herrn von Bippen jeden Morgen zu rasieren. Allerdings verspielte der Kommerzienrat jegliches Ansehen, als er bei einem Hochwasser den Ort flutete, um eigene Vorräte zu schonen.

Geschichten wie diese finden sich Dutzende im großen Kommerzienratsbuch. Sie erzählen viel über Land und Leute in der Prinzregentenzeit, die schon kurz danach zur "guten alten Zeit" verklärt wurde. Sie enthüllen aber auch, dass diese Zeit knallhart war und die Großkopferten noch eitler als heute.

Marita Krauss (Hrsg.): Die bayerischen Kommerzienräte. Eine deutsche Wirtschaftselite von 1880 bis 1928. Volk-Verlag, München 2016. 848 Seiten, 69 Euro.

© SZ vom 14.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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