Georg Baselitz in Paris:Im Haus des Zorns

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Das Centre Pompidou zeigt eine beeindruckende Retrospektive zum Werk von Georg Baselitz.

Von Joseph Hanimann

In der Bestimmtheit seiner Formulierung hat der Ausstellungstitel etwas von den kraftvoll resoluten Pinselstrichen des Malers Georg Baselitz: "Die Retrospektive" Punkt. Ende. Kuratiert vom einstigen Direktor des Musée National d'Art Moderne im Centre Pompidou, Bernard Blistène. Präsent ist Baselitz in Paris zwar schon seit einigen Jahren, nicht zuletzt dank dem unermüdlichen Einsatz der Galerie Thaddaeus Ropac. Nun wird er aber gleich mehrfach geehrt. Die Académie des Beaux-Arts, neben der Académie française eine der fünf Akademien im Institut de France, hat ihn als Auslandsmitglied in ihren Kreis aufgenommen. Zum ersten Mal seit dem 19. Jahrhundert sitzt somit wieder ein deutscher Maler im Kreis der grün befrackten Herren und vereinzelten Damen unter der goldenen Kuppel. Ein seltsamer Anblick, ihn, der in seiner Antrittsrede an die absolute Freiheit des Künstlers gegenüber den Institutionen appellierte, das Akademikerschwert schwingen zu sehen. Seine ganze Schöpferwut scheint er draußen auf dem Vorplatz des Instituts gelassen zu haben, wo bis zum Ende der Retrospektive im Centre Pompidou seine Monumentalskulptur "Zero Dom" - ein "Haus des Zorns" nannte er sie in der Rede - zum Louvre auf dem anderen Seine-Ufer hinüberwinkt.

Man muss das klug hängen, es passen ja nur wenige Monumentalobjekte in einen Raum

Die chronologisch gegliederte Schau des Centre Pompidou - nach jener von Anselm Kiefer vor fünf Jahren die zweite große Retrospektive dieses Hauses für einen deutschen Gegenwartskünstler - stellt Baselitz' Schaffen in den historisch-politischen Kontext seiner Zeit: zerstörte Landschaft und Gesellschaft nach dem Krieg, Auflehnung gegen die Gebote des sozialistischen Realismus in der DDR wie später gegen die politisch-ästhetischen Tabus der Bundesrepublik in West-Berlin, Suche nach neuen Wahrnehmungsformen ohne kanonische Ordnungsvorgaben, Rückkehr der Dresdner Kindheitserinnerung nach dem Mauerfall 1989, fortwährende Überarbeitung der schon behandelten Motive seit 2005 in den "Remix"-Zyklen.

Die Raumanforderungen für Baselitz' großformatige Bilder und Skulpturen führen dazu, dass die ständige Verwandlung dieses Werks auf seinen eigenen Spuren - Bäume, Tiere, zerstückelte Menschenkörper - nicht im fluktuierenden Hin und Her der Beispiele, sondern wie Kometeneinschläge nur in kompakten Einzelstücken darstellbar ist. Mehr als ein halbes Dutzend dieser Monumentalobjekte passen nicht in einen Raum. So kann man, abgesehen von ein paar Kabinetträumen mit Zeichnungen und Druckgrafik und von den wirkungsvoll auf einer Wand aufgereihten fleischig-geschwulsthaften Fuß-Torsobildern aus den frühen Sechzigerjahren, die unendliche Variationsfülle dieses Künstlers hinter der scheinbar hingeklotzten Endgültigkeit seiner Werke auf einen Blick kaum überschauen. Das verlangt eine kluge Auswahl und Hängung der Bilder. In der weiträumig offenen Saalabfolge des Centre Pompidou ist das gelungen.

Die Privatmythologie des jungen Baselitz schon in den Titeln löst sich im Fortgang der Säle allmählich auf. "Oberon" hieß 1963 ein vor einem Trümmerfeld gespenstisch sich räkelndes Wendehals-Bouquet. "Die großen Freunde" waren zwei Hünen im dreckigen Harlekin-Fetzenkleid vor einer Ruinenlandschaft aus der "Helden"-Serie überschrieben. "Die ganze Nacht im Eimer" nannte der Künstler 1963 das Skandalbild eines monströsen Knaben mit priapisch aus der Hose ragendem Glied, als wäre da aus der jüngsten Vergangenheit ein Ding immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Der Bezug zum Deutschland der Stunde null wirkt in dieser Schau aber nie penetrant. Der aus dem Krieg und der geteilten Nation hervorgegangene Künstler wird an keiner Stelle kontextualistisch entschlüsselt.

"Le Monde" fragt, ob Baselitz für das Pompidou schlichtweg "zu groß" sei

Wie effizient dieser Schwerarbeiter mit dem Meißel, Pinsel oder direkt mit dem Finger die vordergründig dargestellte Realität in seinen Bildern zerstört, kann man in der Ausstellung auf Schritt und Tritt nachverfolgen. Er, der sich früh zur burlesken Magie Antonin Artauds hingezogen fühlte und das Erhabene gern mit dem Grotesken versetzt, begann Ende der Sechzigerjahre mit wilder Entschlossenheit, die Welt auf den Kopf zu stellen. Dieses so banale wie raffinierte Verfahren der Bildumkehrung zwischen Oben und Unten, das den Zusammenhang von Motiv und Darstellung kappen will, wird im Centre Pompidou an einigen geschickt ausgewählten Beispielen veranschaulicht. Bleibt bei dem 1972 mit dem Finger gemalten "Adler" noch offen, ob das Tier sich im Beuteflug, im Absturz oder schon unterwegs ins Jenseits der Gegenständlichkeit befindet, so macht das ein Jahr später entstandene, mit "Dreieck zwischen Arm und Rumpf" betitelte Selbstporträt mit dem Kopf nach unten schon eines deutlich: dass der dreieckige Flügel zwischen Arm und Rumpf des männlichen Akts nicht mehr zum Fliegen gebraucht wird. Und vor dem Bild "Die Mädchen von Olmo II" vollzieht man, indem man die grell grünen Formen am oberen Bildrand erst beim zweiten Hinsehen als Fahrräder erkennt, auf denen die beiden Mädchen mit dem Kopf nach unten durch die gelbe Landschaft fahren, genau jenen Wahrnehmungsprozess noch einmal, der Baselitz an den Objekten seiner afrikanischen Kunstsammlung stets faszinierte: das Sehen der Welt, als bräche sie täglich neu aus ihren Ursprüngen hervor. Kein akademisches Ordnungsprinzip, nirgends.

Diese cholerische Kunst tue weh und überfordere die Museen, schreibt der Kritiker von Le Monde zur Ausstellung: "Ist Baselitz für das Centre Pompidou etwa zu groß?" Seltsam ist jedenfalls, dass mit den Abteilungsüberschriften wie "Zwischen Abstraktion und Figuration", "Jenseits der Abstraktion", "Zeitgeist" der Künstler in die alten kunsthistorischen Kategorien zurückgeholt wird, als wäre man im Centre Pompidou vor der eigenen apodiktischen Kühnheit wieder eingeknickt.

Baselitz. La Rétrospective . Centre Pompidou, Paris. Bis 7. März 2022. Katalog 45,- Euro.

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