Gefängnis- und Liebesgeschichte:Der schöne Mann vom Deckblatt

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Ein Heftchenroman und die Geschichte der Repressionen, unter denen sein Autor Mario Cruz in Chile lebt.

Von Gustav Seibt

Die Digitalisierung wird schon bald einer jahrhundertelang attraktiven Erzählsituation den Garaus machen: dem aufregenden Manuskriptfund. Verlorene Handschriften, verschollene Zauberbücher, Ketzerschriften, von denen nur ein Exemplar der Vernichtung entrann, sie lockten mit dem Reiz des Klandestinen, der Enthüllung des Verboten, einem tödlichen Geheimnis. Die Unwahrscheinlichkeit des Überlebens eines einzelnen Schriftträgers weihte grelle Stoffe mit robuster Spannung.

Wie schön, dass es das gelegentlich doch noch gibt, mit der historischen Patina, die auch der jüngste Untergrund ansetzen kann. Ein Heftchenroman mit dem Titel "Der Prinz" (El Principe), "darauf in billigem Schwarzweißdruck ein muskulöser Deckblatt-Held, halbnackt hinter Gefängnisgittern, im Halbprofil den Blick ins Weite gerichtet, eine Zigarette zwischen den Lippen": Dieses schwule Imaginaire stach dem chilenischen Filmregisseur Sebastián Muñoz ins Auge, als er das Heft 2010 zufällig auf einem Markt in Santiágo entdeckte. Das Impressum weist ins Jahr 1972, der Verfasser nennt sich Mario Cruz. Der Fund ist hier also real, keine erzählerische Fiktion.

Nicht der Original-Coverboy, sondern die Besetzung von Sebastián Muñoz’ Romanverfilmung: Alfredo Castro, Juan Carlos Maldonado und Gaston Pauls (von links) in „El Principe“ (2019). Hinter dieser Gefängnis- und Liebesgeschichte steht eine ältere von der Unterdrückung Homosexueller im Chile. (Foto: Niña Niño Films)

Der Inhalt entpuppte sich als intensiver kurzer Gefängnisroman, zugleich kraftvoll und zart hingeworfen, eine Liebesgeschichte unter Männern mit tödlichem Ausgang, weniger als hundert Seiten lang. Muñoz war so beeindruckt, dass er beschloss, einen Film daraus zu machen und dafür, schon der Rechte wegen, das Rätsel von Entstehung und Verfasser aufzuklären. Der Film kam zustande, er wurde 2019 in Venedig uraufgeführt.

Die Geschichte des Hefts und seines Verfassers erzählt Florian Borchmeyer im Nachwort der deutschsprachigen Ausgabe (von JJ Schlegel, sie klingt sehr überzeugend). Sie ist die erste reguläre Buchpublikation des Textes überhaupt. Den Verfasser Mario Cruz gibt es, er lebt sogar noch, versteckt am Stadtrand von Santiágo. 1972, als sein Heft ein paar Tausend Mal gedruckt und von ihm selbst vertrieben wurde, war er knapp dreißig Jahre alt, arbeitete als Gelegenheitsjournalist und freier Schauspieler. Der Muskelmann auf dem Cover war sein Lebenspartner, mit dem er jahrelang kleine, selbstgeschriebene Stücke auf Marktplätzen und in Provinztheatern aufführte. Ein Leben am Rand der Gesellschaft, bedroht von Repression, die nicht nur politisch motiviert war, sondern auch dem sexuellen Außenseiter galt.

Schon unter dem Sozialisten Salvador Allende, der Homosexualität für eine heilbare Krankheit hielt, ging es den chilenischen LGBTQ-People schlecht, umso mehr unter der Militärdiktatur seit 1973, von der sich Cruz zunächst eine Besserung erhofft hatte. Das Nachwort blättert so auch eine allgemeiner gültige Geschichte von Unterdrückung und Überleben auf.

Der kurze Roman hat die Poesie des Holzschnitts, seine Sprache lehnt sich (soweit die Übersetzung hier ein Urteil erlaubt), an den Jargon der Proletarier und Kleinkriminellen an, in deren Milieu sich die Handlung abspielt. Er zeichnet eine Welt, die immer am Rande des Gewaltausbruchs lebt, in der Gesten und Kleidungssignale wichtiger sind als Gespräche. Sexuelle Identitäten sind hier durchaus offen, die männlichsten Männer haben Liebhaber, wenn es andere Möglichkeiten nicht gibt.

Mario Cruz: Der Prinz. Roman. Aus dem Spanischen von JJ Schlegel. Nachwort von Florian Borchmeyer. Albino Verlag, Berlin 2020. 126 Seiten, 18 Euro. (Foto: N/A)

Der eigentlich empfindsame, seine eigene Attraktivität gerade entdeckende Ich-Erzähler gerät wegen einer im Affekt begonnenen, tödlich beendeten Messerstecherei in den Knast. Die Geschichte wird im Gefängnis mit Rückblicken erzählt, mit Drinnen und Draußen also. Erst das schnelle Leben und danach die Einordnung ins Gewalt- und zugleich Liebessystem der Häftlingswelt bilden den Grundkontrast. Der "Prinz" findet einen starken Beschützer, und das ist die Liebesgeschichte des Romans. Auch sie endet tödlich, mit einem epischen Akzent, nachdem die leibliche Mühsal des Gefängnisalltags in aller Krassheit vorgeführt worden war.

Starke Akzente! Aber sie sind am Ende nur der Hintergrund für eine berührende Zartheit. Das Büchlein ist deutlich in jeder Hinsicht, aber es wird nie pornografisch, das ist seine Leistung. Die Sprache der Liebe, die hier gefunden wird, ist unübersehbar schon historisch, sie erinnert vielleicht weniger an den überraffinierten Jean Genet, wie der Verlagstext meint, als an Pier Paolo Pasolini und dessen Feier subproletarischer Körperlichkeit. Dass der Weg zum Film hier kurz ist, begreift man sofort.

Bleibt die Frage, warum dem Buch keine Abbildung des Titelcovers von 1972 beigeben ist. Es hätte nicht nur historische Lokalfarbe beigesteuert, sondern letzte Zweifel an der Manuskriptfiktion ausgeräumt. Nun, auch so ein Cover ließe sich natürlich fingieren. Stattdessen sehen wir vorne ein Filmbild von einem Jüngling hinter Gittern.

Der Verfasser Mario Cruz hat sich in seinem Heimatland bis heute nicht als Homosexueller geoutet.

© SZ vom 27.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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