Frontier-Mythos, neu gesehen:Kamele für die Cowboys

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Western kennt man. Hätte man sie ganz anders erzählen müssen? Ein Gespräch mit Téa Obreht, die es in ihrem Roman "Herzland" von den Rändern des Genres her versucht.

Von Nicolas Freund

Wer dazugehört oder eben nicht, das hat viel mit den Geschichten zu tun, die wir uns erzählen. In Zeiten, die von Diskussionen über Herkunft und Gruppenzugehörigkeiten aller Art bestimmt werden, ist es besonders erstaunlich, wie schnell, verglichen mit anderen historischen Phasen, das Distinktionsmerkmal der Migration seine Unterscheidungsmacht verliert. Oder eben nicht. Das zeigt sich besonders an der Entwicklung des Genres Western, dieser amerikanischen Abenteuererzählung von Freiheit und Selbstverwirklichung. Die 1985 in Belgrad geborene amerikanische Autorin Téa Obreht hat es zum Beispiel gerade neu interpretiert, in ihrem Roman "Herzland".

Die ersten Pioniere, die den nordamerikanischen Kontinent erschlossen und besiedelten, waren Migranten, die, wie Einwanderer heute noch, in die neue Welt kamen, um dort ein neues Leben zu beginnen. Die bis in die Gegenwart wirkende Vorstellung vom Land der unbegrenzten Möglichkeiten stammt auch aus dieser Zeit, als die Weite des für die Siedler unberührten Landes versprach, für jeden alles nur Erdenkliche bereitzuhalten. Im verklärenden Rückblick historischer Erzählungen bleiben von den Möglichkeiten häufig vor allem die Viehzucht und die Suche nach Gold übrig und weiße Männer zu Pferd, die das vermeintlich so wilde Land zähmen. Tatsächlich waren es schon immer viele Randgruppen der Gesellschaft, Mexikaner, Indianer und freigelassene schwarze Sklaven, die das Leben führten, das man im Kino des 20. Jahrhunderts glorifizierte.

"Die Geschichte der Besiedlung Amerikas war wesentlich komplexer als der Mythos. Ich wollte einen Western schreiben, der nicht voll von den Leuten ist, die ich in Western immer schon gesehen hatte", sagt Teá Obreht. Eigentlich hätte sie ihren neuen Roman auch in Deutschland vorstellen sollen. Aber mit der ganzen Lesereise musste auch unser Treffen in München in der Corona-Pandemie abgesagt werden. Jetzt spricht die Autorin eben via Skype über ihr Buch, meldet sich tatsächlich aus dem Herzen des amerikanischen Kontinents, Wyoming, wohin sie mit Mann und Hund vor dem Virus und der Enge New Yorks geflohen ist. Sie redet schnell und mit solchem Enthusiasmus, dass sie fast außer Atem gerät.

Fußnoten und Nebengeschichten des alten Wildwest-Mythos stehen im Zentrum von Obrehts Roman

Obreht kam mit zwölf Jahren in die USA. Heute staunt sie, wie zu Hause sie sich dort fühlt, obwohl sie zu dem Ort zuerst keine Beziehung hatte: "Ich glaube, das gehört zu den emotionalen Gründen dafür, dass der Mythos des amerikanischen Westens so mächtig ist. Auch die Pioniere erlebten das so, aber es ist natürlich eine Illusion, und aus diesem Gefühl entwickelten sich alle möglichen gefährlichen sozialen Dynamiken während der Zeit der Besiedlung."

Es ist davon auszugehen, dass sich die in den USA so wichtige Identitätspolitik auch heute noch daraus speist. Zumal sich, findet Téa Obreht, die psychologischen Effekte von Migration über die Jahrhunderte gar nicht so sehr unterschieden: "Ein Land, eine Sprache, eine Familie zurückzulassen bedeutete - vor allem im 19. Jahrhundert - sie wahrscheinlich nie wiederzusehen. Diese emotionale Einsamkeit hat sich bis heute nicht geändert und wird auch nicht verschwinden, weil sich die Umstände der Migration verändern." Auch wer wo und wie eine neue Heimat finden darf, ist noch heute nicht gleich verteilt. Für manche ist das Leben als Migrant länger und härter als für andere, besonders im Western.

Zwei Erzählstränge hat Obreht in "Herzland" miteinander verstrickt, der eine, kann man sagen, bewegt sich durch den Raum, der andere eher durch die Zeit, und sie treffen irgendwann aufeinander, ganz anders als erwartet. Beide handeln von Menschen, die in den Erzählungen der Frontier sonst kaum eine Rolle spielen.

Von der Ostküste aus macht sich Lurie, Waise und Kind osmanischer Einwanderer, mit seinem Kamel auf den Weg ins Herz des Kontinents. Nach einer kriminellen Blitzkarriere, die in ihrer Brutalität und Willkür an Cormac McCarthys blutigen Antiwestern "Die Abendröte im Westen" erinnert, muss er sich vor der Justiz verstecken und schließt sich einem Trek der amerikanischen Armee an.

Obreht stellt damit eine faszinierende Fußnote der amerikanischen Frontier-Geschichte ins Zentrum ihres Romans: Tatsächlich gab es vor dem Bürgerkrieg für kurze Zeit ein United States Camel Corps, einen Verband der Armee, der Kamele, obwohl man auf ihnen auch reiten kann, vor allem als Lasttiere einsetzte. Man stelle sich vor, das Kamel hätte sich damals gegen das Pferd durchgesetzt. Ob dann die Filmkarrieren von Clint Eastwood und John Wayne so ohne Weiteres möglich gewesen wären? Hätte das Kamel den Mythos vom männlichen, weißen Cowboy verhindern können?

Die Welt der Erzählung entsteht immer aus den Dialogen, nichts erscheint nur vorgefunden

Dass nicht nur weiße, kernige Männer die Frontier voranbrachten, erzählt auch der zweite Handlungsstrang, in dem eine Familie in Arizona dem trockenen, abgelegenen Land die versprochenen unbegrenzten Möglichkeiten abtrotzen muss. Es gibt Streit mit den Nachbarn, der vor allem über die Lokalzeitungen ausgetragen wird. Auch das eine schöne Nebengeschichte des Westens: All die Zeitungen, von denen in den letzten Jahren viele verschwunden sind, und die im 19. Jahrhundert in jedem noch so kleinen Örtchen gegründet wurden, waren jahrzehntelang das diskursive Rückgrat der amerikanischen Gesellschaft.

Auch in der entlegenen Kleinstadt ist der Tod keine Seltenheit, manchmal stirbt jemand schon, weil es einfach zu heiß ist. Das Leben ist hart, nicht nur für Cowboys. Die Kinder erzählen, sie hätten bei der Scheune ein Monster beobachtet. Manche Monstergeschichte aus dem amerikanischen Hinterland hält sich bis heute besser als die Erinnerung an die Kamele, die eine kurze Zeit die Chance hatten, den Pferden davonzuziehen. Komisch und traurig zugleich, als hätte es gar nicht anders kommen können, zeigt der Roman in diesen beiden Erzählungen, wie Mythen und Legenden entstehen und jahrhundertelang wirken oder sofort wieder vergessen werden.

Ein weiterer Mythos, mit dem Obreht aufräumen möchte, ist der des unberührten Landes: "Amerika ist zu Recht stolz auf seine wilden Landschaften. Sie sind etwas Schönes, das man zu bewahren geschafft hat. Die Namen und die kulturelle Bedeutung des Landes wurden aber über Tausende Jahre durch amerikanische Ureinwohner geprägt. Die Landschaft selbst, auch wenn sie unberührt erscheint, von Bränden und Erosion geprägt. Die Geschichten von der Wildnis des Westens blenden das aus."

Tea Obreht: Herzland. Roman. Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2020. 512 Seiten, 24 Euro. (Foto: N/A)

Obreht erzählt in "Herzland" in einem chronikartigen Ton, der manchmal an Gabriel García Márquez' "Hundert Jahre Einsamkeit" erinnert, obwohl der Magische Realismus, der Obreht oft unterstellt wird, bei ihr keine große Rolle spielt. In den Vergleichen mit McCarthy und Márquez erkennt sie sich trotzdem wieder: "Beide schreiben keine atheistischen Geschichten. Sie setzen sich immer mit der Gebrechlichkeit des Menschlichen auseinander und mit der Möglichkeit des Übernatürlichen. Das spricht mich sehr an."

Und dann stehen da immer wieder Sätze wie: "Zwei Tage oder tausend Jahre später begruben sie Evelyn auf dem Hügel hinterm Haus." Da wird ausgestellt, wie sehr das Erzählen die erzählte Welt strukturiert, wenn auch nach historischen Maßgaben. Diese Welt entsteht aber immer aus Gesprächen und Zwischenmenschlichem und der Roman tut auch nicht, wie die meisten Mythen, so, als habe er eine Geschichte vorgefunden. Es ist zu spüren, dass hier etwas erschaffen wird, ein Gegenentwurf zu den genauso erfundenen, wirkmächtigeren Erzählungen, die darüber entscheiden, wer zu Amerika gehört und wer nicht.

Auch im Leben mit dem Virus und mit Einschränkungen des öffentlichen Lebens wirken sich diese alten Geschichten und alten Unterschiede noch einmal neu aus. Téa Obreht nutzt das vorübergehende Exil im amerikanischen Herzland zum Schreiben an ihrem dritten Roman, einer dystopischen Robinsonade. Man hofft, dass sie diesmal die Geschichte nicht neu schreiben muss.

Téa Obreht: Herzland. Roman. Aus dem Englischen von Bernhard Robben. Rowohlt, Berlin 2020. 512 Seiten, 24 Euro.

© SZ vom 30.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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