In jüngster Zeit hat sich die Narratologie, die Wissenschaft vom Erzählen und Erzählten, angeschickt, zur neuen Leitwissenschaft zu werden, die so ziemlich alle anderen Geisteswissenschaften bis hin zu Psychologie und Soziologie unter ihre Fittiche nehmen und ihrer eigenen Deutungshoheit unterwerfen will.
Lässt sich denn nicht alles vom Drama bis zum Vorurteil, vom Trauma bis zur faulen Ausrede unter den überwölbenden Begriff des Narrativs fassen? Vor rund zehn Jahren hatte der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke mit seinem Werk "Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie" das Flaggschiff dieses Anspruchs auf Jungfernfahrt geschickt. Nun folgt Fritz Breithaupt, als Professor für Kognitionswissenschaften und Germanistik an einer interessanten, aber heiklen Schnittstelle tätig, mit seinem Buch "Das narrative Gehirn".
Mehr als 12000 Fälle von "Stiller Post" hat Breithaupt experimentell durchgespielt
Das Kernstück des Buchs bilden Breithaupts umfangreiche Untersuchungsreihen zu der Frage, wie Erzählungen sich verändern, wenn sie vom jeweiligen Rezipienten weitererzählt werden und von diesem sodann einem Dritten und so weiter. Mehr als 12 000 solcher Fälle von "Stiller Post" hat Breithaupt experimentell durchgespielt.
Sein Vorgehen weist leider jedoch erhebliche methodische Probleme auf. Dass er glaubt, in seiner Versuchsanordnung die alles entscheidenden sozialen Randbedingungen des Erzählens kappen zu dürfen, sei ihm dabei noch nicht einmal speziell angekreidet; das machen etwa bei der Spieltheorie alle so. Schwerer wiegt, dass er keinen Gedanken daran verschwendet, was sich ändern könnte, wenn er das "Erzählen" von der üblichen mündlichen in die Schriftform transponiert, wo typische orale Muster wie "Also dann hat er den..." keinen Raum haben. Der Autor sieht auch völlig vom Inhalt der Geschichten ab, wo doch jeder weiß, dass nur gute Geschichten überhaupt eine Chance haben, weiterzuwandern - und seine, soweit er sie überhaupt mitteilt, sind ziemlich schlecht. Er wundert sich, dass eine bestimmte Geschichte in der Weitergabe extrem zusammengestutzt wird, sieht aber nicht, dass dies zumindest teilweise daran liegt, dass die Probanden daraus den Unfug eliminieren, wenn sich im Original eine Spinne an ihrem Netz abseilt - was Spinnen niemals tun, sie benutzen dazu ökonomischerweise einen einzelnen Faden.
Die Entwicklung der emotionalen Wertigkeit in den sukzessiven Versionen will er ermitteln, indem er die Probanden auf jeder Stufe an einer Skala antragen lässt, wie "fröhlich" oder "traurig" sie den Text fanden. Da bekommt er freilich ein Verlaufsbild, das in seiner zackigen Präzision an Aktienkurse oder Fieberkurven denken lässt. Was er nicht berücksichtigt, ist das ungeheure quantitative und qualitative Spektrum des Adjektivs "traurig", das von der loreleyhaften Wehmut bis zur schweren Depression reicht.
So muss man Breithaupts Studien bescheinigen, dass sie einen hohen Grad von Reliabilität und einen niedrigen von Validität aufweisen, das heißt, sie messen sehr genau, was sie messen; aber sie messen nicht oder kaum, was sie zu messen glauben. Es bleibt festzuhalten, dass die Narratologie sich auf einem Holzweg befindet, wenn sie meint, sich in eine exakte Wissenschaft verwandeln und dadurch ihr Prestige steigern zu können.
Wenn schlechthin alles ein Narrativ sein soll, dann taugt das Wort nicht mehr zum Werkzeug der Erkenntnis
Der zweite Holzweg dieses Buchs besteht darin, dass es, angetrieben von Dominationsgelüsten, den Begriff des "Narrativs" ungebührlich überdehnt. Wenn schlechthin alles ein Narrativ sein soll, dann taugt dieses Wort nicht mehr zum Werkzeug der Erkenntnis. Man sehe sich an, mit welchen Schlichen diese Übernahme konkret verfährt. "Kultur setzt sich wiederum gewissermaßen aus der Summe aller Narrative sowie der Weitergabe von Wissen und Informationen zusammen." Als Gelenke fungieren hier die scheinbar harmlosen Wörtlein "gewissermaßen" und "sowie". "Gewissermaßen" behauptet die Deckungsgleichheit der beiden Begriffe unter dem Vorwand der Metapher; "sowie", das bei Aufzählungen das mindere und nachgeschobene Glied bezeichnet, soll den Eindruck erwecken, als käme alles am kulturellen Bestand, was der Eingemeindung ins Narrativ eisernen Widerstand entgegensetzt, eigentlich gar nicht in Betracht.
Und so vernichtet Breithaupt bei dem Projekt, sein Aktionsfeld zu erweitern, die sinnvollen Begrenzungen seines Leitbegriffs, ein Vorgang, der dem Buch zum Verhängnis werden muss. Er verwendet die Vokabeln "Bild" und "Rolle" nahezu gleichbedeutend mit "Narrativ", ohne zu bedenken, dass bei einem Bild das Statisch-Zweidimensionale, bei der Rolle die präsente Verkörperung das Entscheidende ist, beim Narrativ hingegen sein Verlaufs- bzw. Distanzcharakter. Auch das "Urteil" gibt er als einen narrativen Sonderfall aus, ungeachtet, dass es sich dabei um einen Akt des performativen Sprechens handelt: Ich verurteile dich zu drei Jahren Gefängnis - dieser Satz ist keine Erzählung, sondern eine Tat. Und so ist Breithaupt Buch dazu verdammt, einen kategorialen Fehler nach dem anderen zu machen.
Wiederholt äußert Breithaupt Unmut über Trump, aber in seiner Logik müsste er ihn als den größten aller Narratoren ehren
Eng damit hängt der dritte Holzweg dieses Ansatzes zusammen: dass er aufs Grundsätzlichste ohnmächtig bleibt gegen die Möglichkeit der Lüge. Narrativ ist Narrativ, ob es stimmt oder nicht, ja die Lügenstory fasziniert vielleicht mehr als der unausgeschmückte wahrheitstreue Bericht. Dieser ist eben nicht nur Text, sondern Bericht von etwas , trägt seinen Maßstab nicht in sich und besitzt keine Autonomie, sondern muss sich nach seinem Verhältnis zur Welt bewerten lassen. Wiederholt äußert Breithaupt seinen Unmut über Donald Trump; aber es bleibt ein hilfloses Gegrummel. Nach den Voraussetzungen seines Buchs müsste er Trump als den größten aller Narratoren ehren: Denn nie ist das Narrativ als solches, das alle äußeren Rücksichten abstreift und das "fact checking" der Verächtlichkeit preisgibt, so rein und blank aufgetreten wie in dieser Präsidentschaft.
Breithaupt (der diesen Einwand wohl fühlt, wenn er sich ihm auch nicht stellen mag) ersetzt die starke Polarität von wahr und falsch durch das schwächere Kontinuum von besser und schlechter. Mit anderen Worten, er schlägt das Narrativ als Therapie vor. Wer besser erzählt und wer besser zuhört, der komme eher in der Welt zurecht. Die Finanzkrise von 2008/09 etwa konnte seiner Meinung nach, wenn nicht behoben, so doch von den Betroffenen dadurch besser bewältigt werden, dass sie sich auf das Narrativ der Gier von Banken und Bankern verständigten: "In diesem Falle hat bereits die Benennung der Schuldigen durch die Erzähler einen therapeutischen Effekt, denn die Benennung und also Bloßstellung ist ja bereits eine Strafe." Hier schleicht sich, vom Autor unbemerkt, ein anderes Narrativ ein, nämlich das vom tapferen Schneiderlein, das, nachdem es sieben Fliegen oder Testprobanden mit einem Streich erlegt hat, sich nunmehr dem Kampf mit dem Riesen Kapitalismus gewachsen fühlt. Wer hier etwa die Frage aufwerfen wollte, wie denn der Aktienmarkt funktioniert, der würde als Spielverderber aus dieser Märchenstunde verwiesen.
Eine letzte Anmerkung. Ein Ornithologe kann und sollte kein Vogel sein, das ist richtig. Aber es sollten in seiner Welt irgendwie Vögel vorkommen. Ein Narratologe, der keine Geschichten präsentiert, operiert im luftleeren Raum. Breithaupt liefert fast gar keine erzählenden Passagen. Und tut er es doch einmal, dann klingt es so: Er selbst kam als junger Student aus Europa mitten im Sommer an eine amerikanische Universität, kein Mensch da, nur eine einzige andere Studentin, die zufällig gleichzeitig im Sekretariat aufkreuzt. Er fragt sie, um überhaupt mit jemandem in Kontakt zu kommen, ob sie sich nicht mal treffen wollen, sie sagt zu. Als er sie abends abholt, kommt er, wie er ist, und denkt an ein beiläufiges Bier, sie dagegen ist total aufgebrezelt, für sie ist das ein "Date". "Mein kulturelles Missverstehen war mir - aber ihr natürlich ebenso oder noch mehr - sehr peinlich, und wir mussten aus dem Abend das Beste machen." Und weiter? Nichts weiter, der Autor und Erzähler hört hier auf und fühlt nicht, dass er den Leser an diesem Punkt, wo der narrative Bogen dem Höhepunkt entgegenstrebt, mit einem Interruptus stehen lässt. Nein, dieses Narrativ verdient wahrlich kein Vertrauen!