Friedrichstadt-Palast Berlin:In Gold nicht aufzuwiegen

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Wassergrotten-Schönheit mit Bommelhut: Die "Arise Grand Show" im Berliner Friedrichstadt-Palast zeigt exzentrische Exemplare der Gattung Mensch. (Foto: Annette Riedl/dpa)

Im Berliner Friedrichstadt-Palast treibt die neue "Arise Grand Show" die Pandemie aus. Das steuerzahlende Publikum ist begeistert. Für elf Millionen Euro Produktionskosten kann man das auch erwarten.

Von Christine Dössel

Berlin fühlt sich ein bisschen an wie New York an diesem Abend, jedenfalls so, wie man sich das vorstellt, wenn am Broadway eine große Show Premiere hat, chic bis schrill herausgeputzte Menschen anstehen und die Reklamelichter blinken. Wobei: Eine größere Show als die Grand Show im Berliner Friedrichstadt-Palast gibt es ja auch in New York nicht. Das, was in dem monumentalen Unterhaltungstempel, einem der letzten Relikte aus der DDR, an diesem Abend als "Weltpremiere" über die Bühne geht, ist schon ziemlich einzigartig und hat das Attribut "Welt" in Sachen Klasse allemal verdient. Die Schlange, die durch die Corona-3-G-Kontrolle vor dem Haus entsteht, macht sich für so ein Event andrangsmäßig nicht schlecht, es ist ein Sehen und Gesehenwerden. Sie wird so unaufdringlich durch ein Leitsystem geführt und reguliert, dass kein deutscher Ordnungsstarrsinn die Laune trübt. 1900 Plätze gibt es drinnen im großen Saal. Davon werden wegen der aufwendigen Einlasskontrolle vorerst nur zwei Drittel besetzt. Macht 1250 Gäste pro Vorstellung. Nach den langen Monaten des Stillstands und der Isolation ist das immer noch gigantisch viel.

"Arise", der Titel der neuen Show, heißt so viel wie "aufstehen", "sich erheben" - ein Motto, wie gemünzt auf die aktuelle Pandemie-Situation. Fast eineinhalb Jahre war der Friedrichstadt-Palast geschlossen. Das Haus, das normalerweise 80 Prozent seines Budgets an der Kasse einspielen muss, verlor im Lockdown monatlich zwei Millionen Euro. Ohne staatliche Hilfe hätte es nicht überlebt. Grund genug für den Intendanten Berndt Schmidt, zu Beginn der Premiere neben warmen Worten der Begrüßung auch seinen Dank auszusprechen. Wobei dieser nicht nur der Politik, sondern explizit auch "den Steuerzahlern" gilt. Und dann erzählte er noch von den neuen, hochmodernen Lüftungsanlagen und dem "Ritt auf der Rasierklinge", der die Produktion der neuen Grand Show unter Pandemiebedingungen gewesen sei, etwa durch restriktive Reiseeinschränkungen oder Lieferprobleme bei den Bühnenteilen und Kostümstoffen aus aller Welt.

Es ist eine Feier des menschlichen Körpers und Könnens, der Luftnummer und der Lust

Mehr als 100 Künstlerinnen und Künstler aus 26 Nationen sind an "Arise" beteiligt. Das Ganze ist ein irrer Aufwand, der einem, zumal, wenn man das noch nie gesehen hat, den Atem verschlägt. Elf Millionen Euro teuer - ein Produktionsetat, von dem andere Showtempel dieser Welt nur träumen können. Und den man diesem Höchstleistungsspektakel auch ansieht. Müßig zu fragen, ob es das wert ist. Die überbordende Stimmung an diesem Abend, die Freude am Leben, die Feier des menschlichen Körpers und Könnens, der Luftnummer und der Lust sind ohnehin mit Gold nicht aufzuwiegen. Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt, heißt es bei Schiller. Und da, wo er tanzt und springt und singt, sich in Schale schmeißt und die Beine schwingt, muss man nach dieser Show hinzufügen, die auch so etwas wie ein exorbitanter Veitstanz ist, ein sinnenfreudiger Pandemie-Exorzismus. "Arise": ein Sich-Erheben der Lebensfreude über die Seuche.

Die Bühne, entworfen von Frida Arvidsson, bildet ein symbolisches Auge. Das gebotene Spektakel ist dann auch ein echter Augenschmaus. (Foto: Ralph Larmann)

Im Untertitel heißt die Show etwas kitschig "Liebe ist stärker als die Zeit". Die Zeit ist darin nicht etwa nur eine Metapher, die sich in Videoprojektionen von Zifferblättern und Zahnrädern niederschlägt, sondern kommt tatsächlich als allegorische, handlungstreibende Figur vor, gespielt und gesungen von Olivier Erie St. Louis als schwarzer Mephisto in Pluderhosen und Frack. Der rappt auch und blues-rockt und gibt den erzählenden Conférencier. Sein Faust, wenn man so will, ist der lebens- und arbeitsmüde Fotograf Cameron. Der hat mit seiner Muse auch seine Inspiration verloren und wird geplagt von düsteren Gedanken, die ihn in Gestalt von schwarzen Derwischen und anderen höllisch gewandeten Dämonen umschwänzeln. Da der Hauptdarsteller Frank Winkels verletzungsbedingt bei der Premiere ausfiel und auch die Zweitbesetzung erkrankt war - shit happens -, übernahm Dimitri Genco aus dem Ballettensemble die Rolle des Fotografen, playback mit der Stimme von Frank Winkels singend. Das ging gut. Mister Zeit schickt ihn buchstäblich auf eine Zeitreise, auf der Cameron an Stationen seines Lebens zurückkehrt und noch einmal seine Muse (stimmgewaltig: Kediesha McPherson) trifft, ähnlich wie Orpheus seine Eurydike, um am Ende zu erkennen: "The only time is now" - und die Liebe, die währt sowieso ewiglich.

Die dürftige Handlung, bei der mit kindlicher Freude gerne gereimt wird, bildet den Rahmen für insgesamt 33 Gesangs-, Tanz- und Revuenummern von spektakulärer Ausgestaltung (Text und Regie: Oliver Hoppmann). Was da allein an Licht- und Bühnentechnik aufgefahren wird, ist überwältigend. Die Musik kommt live von einer Showband, dirigiert von Daniel Behrens. Funk, Rap, Hip-Hop, Elektro-Pop, dazu Schlager und Balladen, die schnulzigsten singt Jaqueline Bergrós Reinhold, die strahlenumflorte Darstellerin des "Lichts". Zwei der Songs stammen vom Österreicher Tom Neuwirth alias Conchita Wurst. Frida Arvidsson schuf das kolossale Bühnenbild, das ein überdimensionales Auge mit geschwungenem Lid symbolisiert, in dessen gigantische Pupille man quasi hineingesogen wird und das in seiner Augenhöhle mit allerlei Hub- und Senkraffinessen auf technisch höchstem Stand aufwartet. Das Duo Kristian und Peggy Schuller setzt Camerons fotografische Visionen um, Glam-Bilder, Flashs, Model-Körper. Es ist ein Spiel mit Licht und Schatten.

"Arise" ist auch Zirkus und bietet spektakuläre Luft- und Akrobatiknummern. (Foto: Annette Riedl/dpa)

Der Modeschöpfer und Maler Stefano Canulli hat die grandiose (aber erstaunlich undiverse) Ballettcompagnie des Friedrichstadt-Palasts, 40 Frauen, zwanzig Männer, in Fantasiekostüme von erlesener Extravaganz gekleidet. Aufblasbare Ballonkleider, blinkende Amazonenkorsagen, sexy Boas, Büschel und Bustiers. Sogar die abstrakten Figuren aus Oskar Schlemmers "Triadischem Ballett" werden zitiert. Es ist zum Augenüberlaufen. Ein Flimmern, Glitzern und Wimmeln. Wunderschöne Exemplare der Gattung Mensch staksen wie Flamingos vorüber, tummeln und formieren sich mit Grandezza, lasziv, erotisch, zirzensisch. "Arise" ist auch Zirkus und Meisterakrobatik. Atemberaubend die Trapez-Flugnummern der New Flying Cáceres aus den USA, springteuflisch fulminant die Salti und Pirouetten der Artistentruppe von Alexey Pronin an zwei gegenüberstehenden russischen Schaukeln. Das Parkett entzündet von guter Laune. Ahs und Ohs und Zwischenapplaus.

Tänzerisch-choreografisch ist die Show allererste Sahne. Die Ballettdirektorin Alexandra Georgieva engagierte sieben namhafte Choreografinnen und Choreografen. Darunter den Israeli Ohad Naharin, der für "Arise" seine expressive Choreografie "Echad Mi Yodea" neu auflegte: Männer in uniformer Anzugkleidung auf Stühlen, sich nach und nach ihrer Schuhe, ihrer Hemden und Hosen und ihrer inneren Pein entledigend. Oder Eric Gauthier, der eine eindrucksvolle Choreografie auf einer riesigen, sich bewegenden Kippscheibe wie aus einer Inszenierung von Ulrich Rasche beisteuert. Zu den Höhepunkten zählt aber auch das schönste Finger-Schattentheater ever in jener Romantik-Grotte, in der Cameron seine geliebte Muse noch einmal trifft. Und auch die Unterwasserwelt mit sprudelnden Fontänen, grazilen Nixen und Fischwesen in lustigen Findet-Nemo-Kostümen ist entzückend. Getoppt wird das alles nur von der "Girlreihe", der berühmten Kickline der schönbeinigen Friedrichsstadt-Damen. Es ist die längste der Welt. Am Ende Jubel, Konfetti und Sponsoren-Freigetränke für alle.

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