Friedrich Wilhelm Grafs Biografie von Ernst Troeltsch:Nicht bloß eine neue Theologie

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"Inzwischen bin ich theoretisch Skeptiker, praktisch ein gewöhnlich Frommer." - Ernst Troeltsch um 1920. (Foto: akg-images/picture-alliance)

Friedrich Wilhelm Grafs eindrucksvolle Biografie des streitbaren Religionsphilosophen und gelehrten Unruhestifters Ernst Troeltsch.

Von Johann Hinrich Claussen

Diese Biografie beginnt mit dem Ende. Denn keine andere Szene könnte das Leben und den Charakter des liberalen Theologen, Philosophen, Publizisten und Politikers Ernst Troeltsch so plastisch zeigen wie ausgerechnet seine Beerdigung. Mit nur 57 Jahren war er am 1. Februar 1923 in Berlin an den Folgen einer Grippe gestorben. Auch chronische Überanstrengung und Verzweiflung über Deutschland haben zu seinem frühen Ende beigetragen. Schon zwei Tage danach versammelte sich eine riesige Trauergemeinde in und vor der Haupthalle des Wilmersdorfers Krematoriums.

Gekommen waren berühmte Gelehrte, unter anderem Albert Einstein, Künstler und Intellektuelle, politische Weggefährten wie Theodor Heuss, nicht nur Schüler, sondern auch Schülerinnen, was damals für einen evangelischen Theologen ebenso ungewöhnlich war wie die vielen Freundinnen und Freunde mit jüdischer Familiengeschichte. Die Predigt hielt der bedeutendste Theologe und Wissenschaftspolitiker dieser Zeit, Adolf von Harnack. Es schlossen sich zu viele, zu lange Reden an, die wegen des Andrangs nach draußen übertragen wurden.

Sein Tod war 1923 ein Medienereignis, Einstein kam zur Trauerfeier, sogar in den USA und Großbritannien erschienen Nachrufe

Parallel erschienen über 140 Nachrufe. Den eindrucksvollsten schrieb der letzte Assistent, der spätere Literaturkritiker und Essayist Ludwig Marcuse. Sogar in ehemals verfeindeten Ländern wie Großbritannien und den USA wurde Troeltschs gedacht. Dieser Tod war auch ein Medienereignis.

In seiner großartigen Troeltsch-Biografie zeichnet der Münchner Theologe Friedrich Wilhelm Graf diese Szene mit Meisterhand. Sensibel schildert er die Atmosphäre, intensiv analysiert er Reden und Artikel. Überraschende Details haben sein Team und er recherchiert: etwa, dass Troeltschs Frau Marta und der neunjährige Sohn Ernst Eberhard ausgerechnet in Paul von Hindenburgs Wagen vorgefahren wurden.

Vor allem aber kann Graf hier die zentralen Aspekte seiner Lebensdeutung vorstellen. Nämlich erstens, dass Troeltsch - für einen damaligen Gelehrten ungewöhnlich - ein Leben in Beziehungen geführt hat. Zweitens wird in der Erschütterung der Trauergemeinde wie in einem Spiegel Troeltschs ungeheure, für viele fast schockierende Vitalität sichtbar. Denn der Kontrast zwischen dem kraftstrotzenden Vielleser, -schreiber und -redner und seinem vorzeitigen Verlöschen hätte nicht krasser sein können. Drittens war Troeltsch einer, der nicht fertig wurde. Unabgeschlossenheit war Teil seines intellektuellen Charismas, jetzt zeigte sich darin eine Tragik.

Friedrich Wilhelm Graf: Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont. Eine Biographie, C.H. Beck, München 2022, 640 Seiten, 38 Euro. (Foto: C.H. Beck)

Fachleute haben lange auf die Troeltsch-Biografie von Graf gewartet. Kein anderer hätte sie so schreiben können. Sein ganzes Berufsleben hat sich Graf mit seinem "Helden" beschäftigt. Mit Kollegen hatte er dessen weit verstreute Texte gesammelt, in einer 300-seitigen Bibliografie dokumentiert, in einer auf 26 Bänden angelegten, bald abgeschlossenen Gesamtausgabe ediert. Hinzu kamen Aufsätze und Tagungsbände. Niemand verfügt in Sachen Troeltsch über so gute Quellen- und Detailkenntnis, kann so erhellend wissenschaftliche, politische und kulturelle Bezüge darlegen, verfügt über eine so elegante Feder wie Graf. So ist es ihm auch noch gelungen, eine Biografie zu schreiben, die keineswegs nur für Fachleute von Interesse ist.

Troeltsch erschütterte die Dogmatiken konservativer Theologen, aber auch die Selbstgewissheiten des fortschrittlichen Lagers

Interessant ist Troeltsch zum Beispiel, weil man an seinem Beispiel diskutieren kann, ob das Wilhelminische Kaiserreich ein reaktionäres System war oder eine Epoche des Fortschritts. So wie Graf dessen Weg bis 1914 nachzeichnet, muss man sagen: beides! Aufgewachsen und verwurzelt war Troeltsch in einer "Welt von gestern": humanistisch gebildet, kaisertreu, bürgerlich-protestantisch. Zugleich war er ein Unruhestifter. Er erschütterte die Dogmatiken konservativer Theologen, aber auch die Selbstgewissheiten des fortschrittlichen Lagers. Dadurch wurde er zur Leitfigur und zugleich zum Außenseiter. Was er 1900 in einem Brief an Harnack als seine Grundüberzeugung beschrieb, musste viele befremden: "Das Christentum ist in der modernen Welt eine neue Religion geworden, weil es ganz neue Inhalte und Weltsichten in sich hineingezogen hat. Es ist nicht bloß eine neue Theologie, was wir vertreten, sondern überhaupt eine neue Phase des Christentums."

Friedrich Wilhelm Graf, geboren 1948 in Wuppertal, ist evangelischer Theologe und Troeltsch-Experte. Bis 2014 war er Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Universität München. (Foto: Horst Galuschka/Imago)

Im "Weltdorf" Heidelberg fand er eine ideale Wirkungsstätte und in Marianne und Max Weber inspirierende Hausgenossen. Hier schrieb er programmatische Aufsätze zur Religionsphilosophie, zur kulturwissenschaftlichen Öffnung und konsequenten Historisierung der Theologie, zum Protestantismus, zur Soziologie. Dabei gelangen ihm die kurzen Texte am besten, während er bei Versuchen, das eine große Buch zu schreiben, scheiterte. Wer ihn kennenlernen will, sollte seine Buchbesprechungen lesen.

Als Vertreter der Universität im badischen Landtag hatte Troeltsch erfahren, wie soziale und politische Wirklichkeiten aussehen. Diese Lehre kam ihm zugute, als er 1914 auf einen religionsphilosophischen Lehrstuhl nach Berlin kam, - kurz bevor der Erste Weltkrieg begann. Wie gerade erst wieder zu erleben war, sind Kriegsausbrüche Gelegenheiten, bei denen öffentliche Intellektuelle mitunter aufgedrehten Unfug von sich geben. Auch aus dieser Perspektive ist die Biografie hochinteressant. Denn Graf zeigt, welche Wege und Umwege Troeltsch gehen musste, bis er zu einer ethisch klaren und politisch mündigen Einstellung fand, sich außen- wie innenpolitisch für Frieden und Verständigung einsetzte. Dabei verschweigt Graf Fehleinschätzungen und Ressentiments nicht.

Nach 1918 intensivierte Troeltsch sein politisches Engagement. Er betrieb Wahlkampf für die linksliberale Deutsche demokratische Partei und legte als Abgeordneter sowie als parlamentarischer Staatssekretär mit die Grundlagen für eine demokratische Ordnung des Verhältnisses von Religion und Staat. Als Publizist versuchte er, mit Leidenschaft und Argumenten, das protestantische Bildungsbürgertum, also seine eigene Schicht für die junge Demokratie zu gewinnen. Hier führte er einen zunehmend verzweifelten Kampf. Am Tag, als sein Freund Rathenau ermordet wurde, begann er seine Vorlesung mit den Worten: "Der Feind steht rechts." Ob man in der heutigen FDP noch von diesem tragischen Vorkämpfer einer liberalen und sozialen Demokratie in Deutschland weiß?

Es ist dem Biografen hoch anzurechnen, dass er trotz der Überfülle an wissenschaftlichen und politischen Leistungen den "inneren Menschen" nicht vergisst. Fein beschreibt Graf auch die schwierigen Aspekte von Troeltschs Persönlichkeit, vor allem aber geht er immer wieder auf dessen Frömmigkeit ein. Diese war - das mag paradox anmuten - erstaunlich einfach, auf das für ihn Wesentliche konzentriert: Gottvertrauen und Nächstenliebe. So gilt für den sterbenden Troeltsch, was er selbst als Student in einem Brief über sich geschrieben hat: "Inzwischen bin ich theoretisch Skeptiker, praktisch ein gewöhnlich Frommer."

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