Frederick Wiseman zum 90.:Die Logik der Gewalt

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Der Regisseur Frederick Wiseman inspirierte sogar Stanley Kubrick. (Foto: Picture Alliance / DPA)

Der legendäre Regisseur Frederick Wiseman wird neunzig. Er wurde mit seinen Filmen über amerikanische Institutionen berühmt, vom Polizeirevier bis zum Krankenhaus. Heute porträtiert er die Auswirkungen der Trumpzeit.

Von Fritz Göttler

Die größten Filmemacher haben bei ihm vorgesprochen, sich seiner Erfahrung bedient. Eines Tages, erzählt er mit ironischer Versonnenheit, habe ein Mitarbeiter von Stanley Kubrick angerufen, Kubrick würde gern "Basic Training" sehen, 1971, über die militärische Grundausbildung in Fort Knox. Wiseman schickte ihm den Film, dann hörte er lange nichts mehr, erst nach einem Jahr kam die Kopie zurück. "Als ich dann ,Full Metal Jacket' sah, kapierte ich, warum. Der erste Teil, mit dem Armeedrill, war gewissermaßen eins zu eins kopiert."

Über vierzig Dokumentarfilme hat Frederick Wiseman, der am 1. Januar neunzig wird, bis heute gedreht, zuletzt "Ex Libris", über die New York Public Library, und einen über die kleine Stadt "Monrovia, Indiana". Zwei konträre Stücke über Amerika in der Trumpzeit, die großstädtische Institution, die über ihr Bücher-Angebot hinaus ein Ort vielfältiger bürgerlicher Kommunikation ist (von der die schwarze Unterschicht wenig hat) - ein Klavierabend, eine Jobbörse, Patti Smith und Elvis Costello kommen vorbei -, und der Kleinstadtalltag, Bürgerversammlungen, Bibelstunde, Supermarkt, Stagnation. In den letzten Jahren ging Wiseman oft raus aus den großen Städten, nach Europa, machte Filme über die National Gallery in London oder das Ballett der Pariser Oper. In Paris, wohin er floh, als ihm das Jurastudium keinen Spaß machte, fing er das Filmemachen an, mit 8mm-Filmen vom Pariser Leben, ein bisschen Nouvelle Vague, zwischen Agnès Varda und Jonas Mekas.

Diese Filme sind nicht dokumentarisch, sagt Wiseman, sie sind romanhaft

Berühmt wurde er durch die Filme über amerikanische Institutionen, die er in seit den Sechzigern drehte, an diversen Schauplätzen: Polizeirevier, Jugendgericht, Krankenhaus, Uni, das Basic Training beim Militär, eine Intensivstation, in "Near Death". Für seinen ersten Film "Titicut Follies", 1967, filmte er die Insassen des Bridgewater State Hospital für Geisteskranke, die Schikanen, denen sie ausgesetzt waren, und, schlimmer, die Leere ihrer Existenz - der Staat Massachusetts sah deren Privatsphäre und Würde verletzt und wollte in einem jahrzehntelangen Rechtsstreit den Film unterdrücken. Wisemans Filme handeln immer von Ungleichheit und Ungerechtigkeit, von der Gewalt, die in den gesellschaftlichen Institutionen angelegt ist, selbst wenn die Menschen, die sie betreiben, sensibel und vernünftig sind - weil hier immer über andere hinweg gehandelt und entschieden wird.

Diese Filme sind nicht dokumentarisch, sagt Wiseman, sie sind romanhaft. Das Kino geht, durch die Montage, über die reine Abbildung der Fotografie hinaus. Es gibt kein Konzept im voraus, der Dreh ist die Recherche. Die vielen Stunden Material sortiert er - wieder diese sanfte Ironie - nach dem Michelin-Prinzip: ein, zwei, drei oder keine Sterne für jeden Block. Die späten Filme sind, weil in Farbe, wärmer, offener, kommunikativer. Einer der Angestellten der New Yorker Public Library zeigt ihre Bildersammlung, prä-digital, alles Abzüge und Abbildungen. Jeder darf sie benutzen, auch die größten Künstler. Andy Warhol, sagt der Mann, und er kann eine bisschen Befriedigung nicht verhehlen, stahl eine Menge Zeug von uns.

© SZ vom 31.12.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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