Französische Literatur:Sackgassenspiele

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Croissant mit Chili, Paris und Bujumbura: Der französisch-burundische Autor und Rapper Gaël Faye erzählt in seinem Debütroman von Heimat, Kindheit und ethnischem Wahnsinn.

Von Alex Rühle

Was allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war". Ernst Blochs Heimatdefinition ist einer der schönsten Sätze zum Thema Erinnerungsskepsis: Das unwiederbringlich Schöne der Kindheit wirkt nur aus der Erwachsenenferne so, die Kindheit ist ein nachträglich erfundenes Paradies, freundlich ausgeleuchtet von den warmen Rückstrahlern der Nostalgie. Wobei - diese eine Sackgasse in Bujumbura, die muss tatsächlich paradiesisch ausgesehen haben: Hohe Mangobäume, die Schatten spenden. Bougainvilleensträucher, in denen Vögel nisten, Kolonialarchitektur, friedliche Ruhe, und irgendwo in diesem Gässchen am Rande der Hauptstadt von Burundi spielen Gabriel und seine vier Freunde Indianer oder Verstecken. Die Tage vergehen wie Honig, zäh und süß, die zehnjährigen Jungen schwören sich, dort gemeinsam ihr ganzes Leben zu verbringen, und heute, vom fernen Paris aus, kann Gabriel sich nicht mehr erinnern, "wann genau wir angefangen haben, anders zu denken. Nämlich, dass es auf der einen Seite nur noch uns gab und auf der anderen lauter Feinde. Ich frage mich immer noch, wann meine Freunde und ich anfingen, Angst zu haben."

Wir sind im Jahr 1993. Eine Art Gewitterschwüle liegt über ganz Burundi, dem winzigen Land zwischen Ruanda, Kongo und Tansania. Gabriel weiß nichts von ethnischen Spannungen und Völkermord. Er bekommt nur mit, dass seine Mutter, eine Tutsi, die als Kind mit ihren eigenen Eltern vor einem der Pogrome in Ruanda fliehen musste, sich unbehaust fühlt in Burundi und unbedingt wegwill, am besten nach Paris. Gabriels französischer Vater denkt gar nicht daran, weiß er doch, dass das Leben für weiße Expats unvergleichlich komfortabel ist in den früheren Kolonien.

"Aber warum machen die Menschen Krieg", fragt Gabriel seinen Vater eines Abends im Auto. "Weil sie nicht die gleiche Nase haben", gibt der zurück. Er meint den Satz ironisch, die Leute in Bujumbura aber meinen ihn ganz ernst: Wenige Tage nach dem Gespräch mit dem Vater ruft ein Zuschauer bei einer Schultheateraufführung von "Cyrano de Bergerac" auf die Bühne, Cyrano müsse Tutsi sein, "bei der Nase". Wenige Wochen später beginnt jenseits der Grenze, nur 40 Kilometer entfernt, der größte Genozid der jüngeren Geschichte, und Burundi selbst schlittert ebenfalls in einen ethnischen Bürgerkrieg, der fast zehn Jahre vor sich hinschwelen wird.

Warum führen die Menschen Krieg? Weil sie nicht die gleiche Nase haben.

"Petit pays d'Afrique des Grands Lacs / Petit pays / Quand tu pleures, je pleure / Quand tu ris, je ris." - "Kleines Land im Afrika der großen Seen / Kleines Land / Wenn du weinst, weine ich / Wenn du lachst, lache ich / Wenn du stirbst, sterbe ich. / Wenn du lebst, lebe ich." Mit diesen Zeilen eröffnete der Rapper Gaël Faye 2013 sein Debütalbum "Pili Pili sur un croissant au beurre". Faye ist 1982 in Bujumbura geboren und lebt in der Banlieue von Paris, seine Mutter ist Ruanderin, sein Vater Franzose. Pili Pili ist scharfe Chilisauce, es ging auf der CD um das Leben in und zwischen zwei Kulturen, um Sehnsucht und Projektion, das Album belegte Platz eins in den Charts. "Petit Pays" hieß dann auch Fayes Roman im französischen Original, so als würde er den Song einfach fortspinnen.

Dessen Erzähler Gabriel ist eng verwandt mit seinem Autor. Er hat eine ruandische Mutter und einen französischen Vater, er nennt sich eingangs einen Heimatlosen, er lebt im Großraum Paris, diesem kulturellen Nirgendwo, in dem Hunderttausende aus den verschiedensten Ländern zusammengewürfelt wurden und gerade ein neues Frankreich erfinden, notgedrungen, einfach indem sie es leben. Dieser französisch-burundisch-ruandische, erwachsene Gabriel liefert die Rahmenhandlung: die immerwährende Sorge, was wohl aus seiner Mutter wurde, die kurz vor dem Genozid zurückging nach Ruanda, während er und seine Schwester vom Vater in einen Flieger nach Europa gesetzt wurden. Das immerwährende Heimweh, nach der unbeschwerten Zeit in der Sackgasse und danach, einfach ein kleiner Junge namens Gabriel und nicht ein anonymer, geduldeter Ausländer zu sein. Und der Entschluss, zurückgehen, um die schwärende Wunde namens Erinnerung vielleicht so lindern zu können.

Die eigentliche Geschichte aber wird von dem 10-jährigen Gabriel erzählt, einem scharfsichtigen Jungen, der merkt, wie die gerade noch so harmlosen Indianerspiele immer gefährlicher werden, weil ringsum längst marodierende Jugendbanden durch die Straßen Bujumburas ziehen. Die kleine Sackgasse und die große Geschichte - es ist beeindruckend, wie Faye es schafft, einen Roman über den Genozid zu schreiben, ohne dass der selbst zum Thema würde, er zeigt parabelhaft, im Alltag der fünf Jungen, wie eine Gesellschaft in wenigen Monaten verroht, die Spiele werden immer härter, die atmosphärischen Spannungen brauen sich zusammen wie ein tropisches Gewitter, gerade noch war die ganze Stadt ein Abenteuerspielplatz, plötzlich wird sie streng in Tutsi- und Hutuviertel aufgeteilt, und statt die Welt in Indianer und Cowboy aufzuteilen, werden sogar die Jungs gezwungen, eine ethnische Identität zu wählen. Und ausgerechnet Gabriel, der sich der ganzen Raserei so unbedingt entziehen will, wird zu einer schrecklichen Tat gezwungen.

Gaël Faye liefert nebenbei ein kundiges Porträt der burundischen Alltagskultur, aus all den Liedern, die den Text durchziehen, könnte man eine CD zum Roman machen, und hier kommt Donatien, der treue Hausdiener aus dem Nachbarland Zaire auf die Terrasse: "Er trug einen Abacost, eine kurzärmlige Jacke aus dunklem, leichtem Stoff, ohne Hemd oder Krawatte, wie Mobutu es den Zairern vorgeschrieben hatte, um sie von der Kolonialmode zu befreien." So gibt Faye dem Leser im Erzählen viel über den Alltag, die Politik, die Geschichte mit, ohne dass das jemals aufgesetzt wirkte. Irritierender sind viele Afrikastereotype, die der erwachsene Faye/Gabriel einstreut, all die gertenschlanken, wunderschönen, stolzen Frauen, die durch den Text und die üppige Natur schreiten. Man weiß dann streckenweise nicht, ob das Beschreibungen des jungen Gabriel sein sollen oder Sehnsüchte des fernen Erwachsenen, der sich von Paris aus eine Kindheitsheimat erfindet.

Am Ende des Buchs dreht sich dann überraschend der Blick, der erwachsene Gabriel beschließt, in Burundi zu bleiben. Von dort aus beschreibt er seine neue Heimat Frankreich als einen Ort, der seinem Kindheitsbiotop in einem unheimlichen Detail ähnelt, "ein Land wie eine Sackgasse, wo man das Kriegsgetöse und die Raserei der Welt nur ganz von fern hört".

© SZ vom 10.10.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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