Frankfurter Buchmesse 2010:Eine Nation auf der Couch

Lesezeit: 3 min

Argentinien ist in diesem Jahr Gastland auf der Frankfurter Buchmesse. Die Nation feiert sich gern als Zentrum von Seele und Geist - und fragt sich: Wie konnte dieses Land so verfallen?

Peter Burghardt

Nicht viele Städte können es sich leisten, ein Theater zur Buchhandlung zu machen. Buenos Aires schon. Im früheren Teatro Gran Splendid aus dem Jahre 1919 in der Avenida Santa Fé werden seit zehn Jahren Bücher verkauft, es heißt seither El Ateneo. Die Werke stehen in dem prachtvollen Gebäude auf drei Rängen und einer Bühne, über die einst der Tangosänger Carlos Gardel schritt. An solchen Orten hat Argentinien eine fast selbstverständliche Grandezza, und man braucht in Buenos Aires bloß einige Blöcke weiter Richtung Zentrum zu laufen, dann wird es noch besser: An der Avenida 9 de Julio, der breitesten Straße der Welt, wurde kürzlich das Teatro Colón renoviert. Es ist das Opernhaus mit der weltbesten Akustik, verehrt von Caruso, Callas, Pavarotti, Barenboim. Letzterer wurde am Rio de la Plata geboren. André Malraux fand einst, Buenos Aires sei "die Hauptstadt eines Imperiums, das nie existiert hat".

Vor allem Bessergestellte unter den Argentiniern lieben Kultur, lesen gerne und empfinden es als berechtigte Ehre, dass ihr Land in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse (hier ein Bild vom Aufbau) ist. Andererseits findet man in Regalen und Zeitungen oft Texte, die sich mit dem Verfall der Republik befassen. (Foto: dapd)

Als Zentrum von Seele und Geist gehören das Häusermeer am großen Fluss und seine Bewohner jedenfalls nach wie vor zur Weltspitze. Ein argentinischer Film gewann zuletzt einen Oscar, ein argentinischer Jurist ist Chefankläger in Den Haag, argentinische Autoren, Musiker, Forscher, Werber, Designer und Sportler sind erfolgreich. Vor allem Bessergestellte unter den 41 Millionen Argentiniern lieben Kultur, lesen gerne, diskutieren noch lieber und empfinden es als berechtigte Ehre, dass ihr Land in diesem Jahr Ehrengast der Frankfurter Buchmesse ist. Minderwertigkeitskomplexe gehören nicht zu den auffälligsten Eigenschaften der Porteños, der Einwohner der Metropole. Andererseits findet man in Regalen und Zeitungen oft Texte, die sich mit dem Verfall der Republik befassen. Mit der Frage, wie es so weit kommen konnte und wie es weitergehen soll. Denn Argentinien ist ein Land auf der Couch.

Zum Glück versammelt sich im Reich der Melancholie ein Heer von Therapeuten, Analysten, Soziologen; Freud steht hoch im Kurs. Es gebe drei Arten von Ländern, hieß es einmal: Industrieländer, Entwicklungsländer - und Argentinien. Argentinien hatte einst Voraussetzungen wie die USA und könnte heute auf dem Niveau von Kanada oder Australien sein, mindestens.

Das Land ist ein faszinierender Schmelztiegel mit fantastischer Natur, mit grandiosen Bergen, Wüsten, Gletschern, Pampa und Rohstoffen aller Art. "Die Mexikaner stammen von den Azteken ab, die Peruaner von den Inkas und die Argentinier von den Schiffen", schrieb der mexikanische Poet Octavio Paz unter Missachtung der Ureinwohner. Argentinien war Einwandererland und wurde Auswandererland, zuletzt ging es wieder umgekehrt. Frankreich und Italien fühlte sich das Volk der Immigranten oft näher als Paraguay und Bolivien. 1910 war Argentinien das achtreichste Land der Erde. 2010 belegte es Rang 57. Was war passiert?

Es kamen die Caudillos, vorneweg Juan Domingo Perón. Sie wollten eine Großmacht schaffen und scheiterten. Zwischen 1976 und 1983 metzelte die Militärdiktatur 30000 Andersdenkende und Verdächtige nieder oder trieb sie ins Exil. Darunter waren viele Intellektuelle, die heute in der Politik vermisst werden. Das Regime ist beherrschendes Motiv für Schriftsteller, zu den Opfern gehörte damals der Reporter und Literat Rodolfo Walsh. 2001/2002 stürzte das Land in die Staatspleite, die ehemals so stolze Mittelschicht schmolz dahin. Rasch erholte sich der Bankrotteur wieder, es halfen eine abgewertete Währung, gute Soja-Ernten und viel Talent. Trotzdem ist längst Brasilien vorbeigezogen, und am Rande von Buenos Aires wachsen Slums wie in Rio. Argentinien könnte mit seinen Ressourcen 300 Millionen Menschen ernähren, aber im Dunstkreis der Hauptstadt und im Norden leben viele Argentinier in Armut.

Der tote Rebell Che Guevara wurde zum bedeutendsten Argentinier gewählt

Zum 200-jährigen Jubiläum der Unabhängigkeit wurde der Fall kürzlich wieder erörtert. Die Politologin Graciela Römer kam in der Zeitung Clarín zu dem Schluss: "Die Argentinier glauben in ihrer großen Mehrheit, dass ihrem Land vertrauenswürdige Institutionen fehlen, seine Bevölkerung unter einem ausgeprägten Individualismus leidet und den wahren Sinn nationaler Gemeinschaft vermisst." Manche schimpfen auf die Peronisten, jene verwirrende Bewegung von links nach rechts.

Rechts-Peronist Carlos Menem aus La Rioja regierte, als sei Buenos Aires wie Miami, der Peso war so viel wert wie der Dollar. Die Links-Peronisten Cristina Fernández de Kirchner und Néstor Kirchner, ihr Mann, aus Rio Gallegos in Patagonien machten die Präsidentschaft zu einem Familienunternehmen. Die Oberschicht und führende Medien können die Kirchners nicht ausstehen, doch landesweit sind sie so unbeliebt nicht und könnten auch die nächste Wahl 2011 gewinnen.

Frau Kirchner sorgte für Erheiterung, als sie für die Buchmesse argentinische Mythen auswählen sollte. Sie entschied sich zunächst für den Fußballer Diego Maradona, den Revolutionär Che Guevara, Peróns Gattin Evita sowie den Tango-Barden Gardel. Angesichts von Zweifeln an der literarischen Relevanz der Erwählten nahm sie noch die Dichter Jorge Luis Borges und Julio Cortázar in die Ehrengala auf. Borges hat, wenn man so will, in seiner genialen Kurzgeschichte "El Aleph" übrigens das Internet vorweggenommen, als er in einem Keller die Universalbibliothek entdeckte.

Bei einer Umfrage indes wurde einmal der tote Rebell Che Guevara zum bedeutendsten Argentinier gewählt. Als wiederum das Blatt Clarín wissen wollte, mit welchem Landsmann sich die Leser am meisten identifizieren, gewannen Diego Maradona und René Favaloro. Die Triumphe, Abstürze, Depressionen und Wiedergeburten von Fußball-Idol Maradona passen nicht schlecht zu Argentinien; und Herzchirurg Favaloro legte den ersten Bypass.

© SZ vom 04.10.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: