Flüchtingsgeschichte:Abschiebung nach Albanien

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Eine klassisch erzählte Umweltgeschichte, hier ganz aktuell verbunden mit dem Schicksal eines Mädchens.

Von Markus C. Schulte von Drach

Wieso versteckt sich das Mädchen in den Umkleideräumen der Turnhalle - unter ihrer alten Winterjacke nur einen Schlafanzug, an den bloßen Füßen Clogs? Bei dieser Kälte? Als Linus seine elfjährige Klassenkameradin Merjem entdeckt, versteht er erst einmal überhaupt nichts - bis auf eines: Es gibt hier ein Geheimnis, und Geheimnisse verrät man nicht. Schon gar nicht dem fiesen Hausmeister, der ihn gerade verdonnert hat, das Graffiti zu überstreichen, das er an die Turnhalle gesprayt hat. Also wundert sich der Junge - und schweigt. Erst einige Tage später sucht er Merjem in ihrem Versteck wieder auf. Das Handy, um das sie ihn gebeten hatte, hat er natürlich vergessen. Überhaupt bekommt er ziemlich vieles in seinem Leben nicht so recht auf die Reihe. Auch die zehn Euro, die Merjem ihm gibt, damit er doch noch ein Mobiltelefon besorgt, nutzt er, um seinen Schwarm Dana zum Eis einzuladen. Obwohl er inzwischen weiß, dass Merjem große Probleme hat. Ihre Lehrerin hat die Klasse informiert: Merjem sollte jetzt eigentlich mit ihren Eltern in Albanien sein. Abgeschoben. Von der Polizei mitten in der Nacht abgeholt. 20 Minuten hatten sie Zeit, um das Wichtigste einzupacken. 20 Minuten, in denen Merjem in Panik abgehauen ist.

Nicht nur Erwachsene beschäftigt die Flüchtlingskrise. Auch Kinder bekommen mit, dass in jüngster Zeit mehr Fremde nach Deutschland gekommen sind, als gewöhnlich. Die Botschaften, die ihnen dazu vermittelt werden, sind widersprüchlich. Manche Flüchtlinge sind willkommen, andere offenbar nicht. Manche fliehen vor Bomben, andere vor dem Nichts, das sie in der Zukunft zu Hause erwartet. Manche scheinen Probleme mitzubringen, andere integrieren sich vorbildlich - und müssen trotzdem zurück in eine Heimat, von der die Kinder oft gar nichts wissen. Susanne Schmidt ist es mit dem Buch "Merjem" gelungen, genau den Aspekt zu beleuchten, der hier am wichtigsten ist: Es geht erst einmal ganz einfach um Menschen. Gemeinsam mit Linus wird man mit einer Realität konfrontiert, in der es nicht mehr zählt, dass man sich anständig verhalten hat. Und mit Merjem sind die Leser plötzlich auf der Flucht vor der Polizei, ratlos, mittellos und viel zu jung, um auf sich selbst aufzupassen. Einen Ausweg gibt es nicht - welchen auch? Aber es gelingt den Kindern immerhin, eine den Umständen entsprechend gute Lösung zu finden. Nebenbei klären sie noch ein Verbrechen auf, ein Fiesling bekommt seine verdiente Strafe, Verliebte finden zueinander. Ende gut - alles gut? Nein, leider nicht. Die Zumutung, dass Merjem Deutschland verlassen muss, kann Schmidt den Lesern nicht ersparen. Das wäre doch zu dick aufgetragen.

Rezensenten loben Bücher manchmal dafür, dass sie gerade keine Botschaft vermitteln, oder eine solche wenigstens nicht zu dick auftragen. Aber es gibt Botschaften, die haben ihre Zeit, und dann müssen sie klar sein. Die Zeit von Merjems Botschaft ist jetzt. (ab 12 Jahre)

Susanne Schmidt : Merjem. Jacoby & Stuart, Berlin 2016. 208 Seiten, 14,95 Euro.

© SZ vom 05.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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